Ist Globalisierung noch Vision oder schon Schimpfwort?
Die 20 weltwirtschaftlich Reichen und Schönen – die bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer – haben sich kürzlich im chinesischen Hangzhou zu ihrem G20-Gipfel getroffen. Dieser Club repräsentiert 80 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts und ist sozusagen die Champions League der Weltkonjunktur.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist der Welthandel explodiert und erreichte 2007 seinen Gipfel. Vor allem dank der Schwellenländer wuchs die Weltkonjunktur wie Spargel im Frühling, der Exportnationen wie Deutschland sehr mundete. Damals fand auch noch die letzte deutsche Kuckucksuhr irgendwo in der Welt einen Abnehmer. Mit seinem hervorragenden Industrie-Know How war Deutschland der klare Globalisierungsgewinner und lange Zeit Export-Weltmeister. Deutschland ließ in Asien und China die Drehbänke laufen, ja Deutschland industrialisierte die Schwellenländer.
Unterstützt wurde die Globalisierung vom damaligen weltfinanzwirtschaftlichen Zeitgeist. In die BRIC-Staaten zu investieren war angesagt und machte aufgrund der guten Renditen auch richtig gute Anlegerlaune. Die Kapitalzuflucht nährte die Kapitalzuflucht und schaffte Schlaraffenland ähnliche Investitionsbedingungen. So wuchs die Weltkonjunktur 2007 um fast 5,7 Prozent. Globalisierung war damals so populär wie Popcorn und Cola im Kino.
Die Immobilienkrise beendete vorerst die Happy Hour der Globalisierung
Dann aber wirkte das Platzen der Immobilienblase 2008 auf die Globalisierungs-Euphorie wie die frühzeitige Rückkehr der Eltern auf eine heimliche Hausparty von Jugendlichen. 2009 geriet die Weltwirtschaft sogar in die Rezession. Immerhin schworen sich damals die großen Wirtschaftsnationen gegenseitig, nicht wie in den 30er-Jahren globale Handelskriege anzuzetteln, die die weltkonjunkturelle Deflation noch verstärkt hätten.
Tatsächlich kam es 2010 zu einem ordentlichen Wiederaufbäumen der Weltwirtschaft. Doch das hatte eher starke Ähnlichkeit mit einer angeschlagenen Beziehung nach der Paar-Therapie. Erst rauft man sich zusammen und verfällt dann doch wieder in die alten Fehlverhaltensmuster. Seitdem flacht sich die Weltwirtschaft ab und wird in diesem Jahr mit etwa 2,9 Prozent so schwach wachsen wie noch nie im neuen Jahrtausend.
Natürlich, selbst Schwellenländer können nicht jedes Jahr zweistellig wachsen, ohne Konjunkturblasen zu verursachen, die irgendwann mit allen schrecklichen Konsequenzen platzen. Ihr struktureller Umbau zu Konsum und Dienstleistungen ist insofern gesund, da nachhaltiges Wachstum gefördert wird. Nachhaltig heißt jedoch gleichzeitig weniger hohe Nachfrage zuungunsten der Weltwirtschaft.
Wenn es hart auf hart kommt, ist sich jeder selbst der Nächste
Wenn der Weltkonjunktur-Kuchen kleiner wird, ist jeder selbst darum bemüht, sich die besten Stücke zu sichern. Da gibt niemand gerne etwas ab, schon gar nicht den Zuckerguss oder das Sahnehäubchen. Dann steht der Gemeinnutz der Globalisierung im Widerspruch zum nationalen Eigennutz. Überhaupt, die früher noch klassischen importstarken Schwellenländer werden immer mehr zu konkurrenzfähigen exportstarken Industrieländern, die den etablierten Handelsnationen das Leben schwer machen.
Jetzt könnte man behaupten, dass die Konkurrenz aus den Emerging Markets das globale Geschäft belebt. Leider aber muss man feststellen, dass man der eigenen wirtschaftlichen Stärke kräftig mit künstlichen, unlauteren Mitteln auf die Sprünge hilft. Mittlerweile sind Subventionen, Exportzölle, eigentlich die ganze Palette der protektionistischen Behinderung eines freien Verkehrs von Kapital, Arbeitskräften und Gütern an der Tagesordnung. Viele Unternehmen, die eigentlich pleite sind, werden in China zur Arbeitsplatzsicherung mit billigsten Krediten über Wasser gehalten, behindern somit die marktwirtschaftliche Flurbereinigung und sorgen mit weltweiten Überkapazitäten für künstlichen Konkurrenzdruck.
Nach Jahrzehnten der nicht zukunftsfähigen kreditfinanzierten Konsumwolllust hat Amerika erkannt, dass ein neues valides Wirtschaftsmodell her muss. Sein Name lautet Reindustrialisierung und Wiedergeburt als Exportnation. Doch selbst dieses Land der Freiheit verhält sich bei handelstechnischen Fragen nicht immer freiheitlich. So legen die USA größten Wert darauf, dass volkswirtschaftliche Wertschöpfung möglichst im eigenen Land erbracht wird, um Beschäftigungseffekte für sich nutzen zu können. Es ist für ausländische Firmen oft einfacher ihre Produkte vor zu Ort verkaufen, wenn sie auch vor Ort produzieren. Daher investieren so viele deutsche Konzerne in den USA, z.B. VW.
Apropos VW, ich will den Abgasskandal überhaupt nicht schönreden. Aber er war ein Himmelsgeschenk für Auto-Amerika, sich innovative Technologie, also lästige ausländische Auto-Konkurrenz vom Hals oder besser gesagt, von der Straße zu halten. Alle anderen Autobauer haben ja nicht im Entferntesten Abgaswerte manipuliert. Richtig und die Erde ist eine Scheibe.
Nicht zuletzt will Amerika mit national eigennütziger Handelspolitik auch seine globalen Ansprüche sichern. Washington weiß aus eigener geschichtlicher Erfahrung, dass eine starke Position in der globalen Wirtschaft auch eine starke Weltmachtposition nach sich zieht. Auf gar keinen Fall will man den Chinesen hier das wirtschaftliche Feld überlassen.
In puncto freien Märkten findet man auch in Europa wenig Heilige, aber viele Scheinheilige
Die Euro-Staaten haben nicht – wie Eichhörnchen, die sich einen Wintervorrat anlegen – die wirtschaftliche Blütezeit nach Euro-Einführung genutzt, um ihre Volkswirtschaften fit zu machen. Weitere geopolitische Hinkefüße kamen hinzu. Die Sanktionen gegen Russland treffen die EU und Deutschland hart, da auch Russland seinerseits Sanktionen gegen die EU verhängt. So werden Industrieimporte nur noch zugelassen, wenn Russland intern über keine in etwa gleichwertige Technologie verfügt.
Und natürlich fordern auch die vielen politischen Unruheherde in Europa ihren konjunkturellen Tribut. In der EU hat sich eine dermaßen hartnäckige EU- und Euro-kritische Haltung ausgeprägt, die an Wildwuchs im Garten erinnert. Populistische Parteien haben mittlerweile überall Zulauf. Und was für ein Armutszeugnis ist es für das europäische Gemeinschaftswerk, wenn ein großes Land die Nase von der EU-Familie voll hat. Argumente für gute Konsum- oder Investitionslaune in der EU sehen anders aus.
Vor diesem prekären Hintergrund versucht Europa alles, um seiner hausgemachten Wirtschaftskrise entgegenzuwirken. Arbeitsmärkte und soziale Sicherung sollen stabilisiert werden, um den weiteren Prozess der Eurosklerose aufzuhalten. Und so ist sich auch Europa für Importzölle auf asiatische Waren nicht zu schade. Diese „Zöllerei-Liste“ zur Stützung der heimischen Exportindustrie könnte man bis zur Völlerei weiterführen.
Ich behaupte ebenso, dass die EZB bewusst eingesetzt wird, um über geldpolitische Zins- und Renditedrückung den Euro abzuwerten und der eurozonalen Außenwirtschaft aufs Pferd zu verhelfen.
TTIP als Beispiel wie man Globalisierung zerstört
Theoretisch ist ein Freihandelsabkommen zwischen Amerika und der EU (TTIP) gut. Es macht den Weg für mehr Handel frei. Doch wie so oft machen Politiker praktisch alles kaputt. Schon zu Beginn der Verhandlungen hat man viel zu viele Erwartungen geschürt und es wurden zu viele Themen auf einen Schlag verhandelt. Zudem haben sich zu viele Interessengruppen auf beiden Seiten eingemischt. Zu viele Köche verderben den Brei.
Und dann meinte man auch noch, drei Jahre lang im stillen Kämmerlein verhandeln zu müssen. Selbst Bundestagsabgeordnete müssen ein fast Zölibat-haftes Gelübde ablegen, das sie nicht über Verhandlungsinhalte von TTIP öffentlich sprechen. Damit hat man Gerüchten Tür und Tor geöffnet und ein shit storm losgetreten, der TTIP schließlich auf beiden Seiten des Atlantiks so attraktiv gemacht hat wie Sommerurlaub im Dauerregen.
So konnte ein republikanischer Präsidentschaftskandidat mit der Angst, TTIP würde zu einem Abbau von US-Arbeitsplätzen führen, so erfolgreich Wahlkampf machen, dass auch die demokratische Regierung und eine demokratische Präsidentschaftskandidatin sich vom Freihandelsabkommen distanzieren wie der Teufel vom Weihwasser. Und auch in der EU lässt sich mit TTIP kein Blumentopf mehr gewinnen.
Grundsätzlich finde ich es gut, dass die EU nicht einfach auf kampferprobte Standards im Handel von Produkten und Dienstleistungen verzichtet, nur um ein Freihandelsabkommen mit den USA unbedingt über das Knie zu brechen. Wir sind ja keine Vasallen.
Das TTIP-Porzellan ist in der Zwischenzeit so zerschlagen, dass es Zeit brauchen wird, dieses wieder zu kitten: Aber nicht 2016 wegen der US-Präsidentschaftswahl, nicht 2017 wegen den Wahlen in Frankreich und Deutschland. Und 2018? Wer weiß, was dann politisch los ist.
Für Deutschland steht viel auf dem Globalisierungs-Spiel
Dennoch muss Deutschland die Globalisierungs-Karte spielen. Denn wir hängen an freien Märkten wie Fliegen am Fliegenfänger: Der Anteil der deutschen Exporte an der Wirtschaftsleistung hat sich seit Anfang der Neunzigerjahre mehr als verdoppelt und liegt jetzt bei knapp 50 Prozent. Leider sind von den aktuell knapp 1.200 Handelsbeschränkungen weltweit ausgerechnet die deutschen Vorzeigebranchen Eisen, Stahl, Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik und Auto betroffen.
Überhaupt, Amerika könnte zukünftig noch mehr transpazifisch und noch weniger transatlantisch denken. Immerhin lassen sich kleinere asiatische Staaten von Amerika schneller „überreden“ als europäische. Die Gefahr besteht, dass Amerika hier Handelsusancen festklopft, die „Weltgeltung“ erlangen könnten. Dann geriete die EU mit ihren Handelsnormen ins Hintertreffen.
Die deutsche Wirtschaftspolitik ist also gut beraten, die Sorgen der Menschen vor Globalisierung wie ein Schwamm aufzunehmen und viel Überzeugungsarbeit zu leisten, dass das kleine Deutschland die Herausforderungen der Globalisierung zum eigenen Nutzen annehmen muss, auch wenn es in Mode gekommen ist, Globalisierungsgegner zu sein.
Daneben sollten wir auch mit Russland wieder ins wirtschaftliche Gespräch kommen. Nur weil der große Bruder Obama ein Problem mit Russland hat, muss das ja nicht auch für die kleine Schwester gelten. Mit Präsidenten anderer Länder hat man ja auch keine Kommunikationsprobleme.
Insgesamt haben wir es mit einer „Globalisierung“ der Renationalisierung zu tun. Dem jeweiligen nationalen Mikrokosmos mag es kurzfristig Vorteile bringen, langfristig wird der weltwirtschaftliche Makrokosmos durch De-Globalisierung aber kastriert.
Bedauerlicherweise hat es der G20-Gipfel in China nicht geschafft, die Globalisierung wieder aufzuwärmen. „Kalt wie eine Hundeschnauze“ passt eher als Beschreibung. Immerhin, 2017 hat Deutschland den G20-Vorsitz inne: Eine gute Gelegenheit, die Globalisierung wieder heiß zu machen. Denn erkältet sich die Globalisierung nachhaltig, erfriert Deutschlands Wohlstand.
Ein Beitrag von Robert Halver.
Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.
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Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de