Große Risiken theoretisch ja, praktisch nein!

Mit der neuen britischen Premierministerin Theresa May werden zwar offiziell die Weichen für den Brexit gestellt. Doch wie dieser konkret aussieht und inwieweit er überhaupt stattfindet, lässt sich heute noch nicht sagen. Schon aufgrund Jahre langer Trennungsverhandlungen mit der EU wird das Brexit-Thema zwischenzeitlich deutlich als Treiber für Eurosklerose verlieren. Im Falle eines Falles stehen die Bank of England und die EZB jedoch bereit, auch um eine europäische Bankenkrise zu verhindern. In Japan zeichnet sich endlich ab, das schwache Konjunkturbild mit Infrastrukturmaßnahmen aufzuhellen. Es ist zu hoffen, dass dieser volkswirtschaftliche Königsweg kein japanisches One Hit Wonder bleibt, sondern international, zum Wohle der Weltkonjunktur, zu einem Evergreen wird. Insgesamt ist bis Jahresende von einer freundlichen Aktienstimmung auszugehen.

Wie viel Brexit steckt im Brexit?

Schneller als erwartet hat Großbritannien eine neue Premierministerin. Frau May macht klar: Brexit bedeutet Brexit. Mit der Ernennung von Hauptprotagonisten der Ausstiegs-Bewegung zum neuen Außenminister – Boris Johnson – bzw. zum Leiter der Ausstiegsverhandlungen mit der EU – David Davis – verleiht sie ihrer klaren Haltung vermeintlich Nachdruck. Unmittelbar nach dem Brexit-Referendum sind die politischen Wunden noch zu frisch, um bereits jetzt die Brexit-Diskussion in ruhiges Fahrwasser zu bringen. Frau May hat im Moment gar keine andere Wahl als sich very british zu zeigen.

Doch ist zu bedenken, dass in Europa Halbwertszeiten von politischen Äußerungen eher kurz sind. Und tatsächlich spielt Frau May insgeheim bereits auf Zeitgewinn: Nicht vor Jahresende wolle sie einen Antrag auf Austritt stellen. Das ist ein klarer Widerspruch zu ihrem starken Brexit-Auftreten. Wenn sie doch unbedingt austreten will, warum dann noch Zeit verlieren? Klug und politisch gewieft weiß Frau May natürlich, dass ein Brexit rational betrachtet – ohne pathetisches und British Empire-Gehabe – ein großes politisches und wirtschaftliches Risiko für Großbritannien ist. Sie muss retten, was zu retten ist. Zunächst muss aber im Inland der Brexit an medialer Bedeutung verlieren und in der EU so mancher politische Durchlauferhitzer in puncto „Briten raus“ abgekühlt werden.

Es braucht also Zeit, in der man in „inoffiziellen Austrittsverhandlungen“ den Weg für pragmatische Lösungen sucht. Dabei gibt es selbstverständlich widerstrebende Interessen. Einerseits kann die EU den Briten keinen so guten Deal anbieten, der ihren Austritt noch belohnen würde und zu Nachahmeffekten führen könnte. Andererseits wird es Frau May schwer haben, ein Austrittsergebnis zu präsentieren, dass ihren britischen Landsleuten deutliche Wohlstandseinbußen einbringt. Berücksichtigt man noch die dramatischen rechtlichen Herausforderungen in puncto Zugang zum EU-Binnenmarkt und Finanzmarktfragen, ist es durchaus vorstellbar, dass die Scheidungsfrist deutlich über die vorgesehenen zwei Trennungsjahre hinausgeht.

Erneut muss festgestellt werden, dass die Bundesregierung im Gegensatz zu Frankreich oder Italien ein vitales Interesse an einem auch zukünftig engen Verhältnis von Großbritannien zur EU hat. Die stabilitäts- und marktwirtschaftlich orientierte Achse London – Berlin kämpft seit langem gegen die reformfeindliche Achse Paris – Rom, die eine Schulden-EU mit Finanzierung durch die Notenbank präferiert.

Bis also geklärt ist, ob der Brexit tatsächlich pur oder als Light-Version oder nach Brexit der Re-Brexit kommt, wird dieses grundsätzlich brisante politische Thema an Gefahrenpotenzial deutlich einbüßen.

An den Finanzmärkten setzt sich diese geläuterte Einsicht bereits durch. Das britische Pfund – gewichtet gegenüber den bedeutendsten Handelswährungen – scheint nach der rasanten Abwertung in Folge des Brexit-Votums einen Boden gefunden zu haben. Und die Volatilität britischer Aktien gemäß FTSE 100 Volatilitätsindex ist auf das niedrige Niveau vor dem Brexit-Referendum im Mai zurückgekehrt.

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Auf Jahreshoch befindet sich der britische Aktien-Leitindex FTSE 100. Da die in ihm gelisteten Unternehmen 75 Prozent ihrer Umsätze außerhalb Großbritanniens erzielen, profitiert er exportseitig von der grundsätzlichen Pfund-Schwäche. Hinzu kommen geldpolitische Lockerungsabsichten der Bank of England, die über Zinssenkungen und ausgeweitete Anleiheaufkäufe eine Liquiditätshausse nähren. Auf der fundamentalen Ebene profitieren britische Aktien von der politisch allerdings noch wenig ausgegorenen Vision einer britischen Power-Ökonomie, die versucht, über Steurer-, Sozial- und Währungs-Dumping sowie Deregulierung des Londoner Finanzplatzes zu einer der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt zu werden.

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Japan spielt endlich die letzte, aber entscheidende binnenwirtschaftliche Karte

Die beispiellose geldpolitische Liquiditätsexpansion der japanischen Notenbank ist ziemlich ohnmächtig in der Stimulierung der Exportwirtschaft. Denn durch weltweit überall fallende Zinsen hat das Land seinen Niedrigzinsvorteil gegenüber anderen Währungsräumen verloren. Die zusätzliche Aufwertung des in Asien als sicherer Hafen geltenden Yens hat durch das Brexit-Votum noch einmal an Dynamik zugelegt. Nicht zuletzt trägt die mit der Yen-Aufwertung einhergehende Verbilligung der Importpreise zu einem dramatischen Verfall der Inflation bei.

Sicherlich kommt die Aufwertung des Yen ausländischen Investoren aus dem US-Dollar- und Euroraum zugute. Die Währungsgewinne wirken wie eine Absicherung gegen die Kursverluste japanischer Aktien.

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Fundamental ist jedoch unverkennbar, dass Japans Wirtschaft deflationiert. Die japanische Regierung hat ihre Wachstumsprojektion für 2016 deutlich auf 0,9 von zuvor 1,7 Prozent reduziert.

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Nach den gewonnenen Oberhauswahlen und damit deutlich mehr politischem Gestaltungsspielraum setzt Japans Premierminister Abe auf die Binnenwirtschaft. Die für April 2017 geplante Mehrwertsteuererhöhung wurde auf Oktober 2019 verschoben, um die Konsumneigung nicht nachhaltig zu beschädigen. Zudem soll die japanische Inlandsnachfrage im Rahmen eines umgerechnet mindestens 100 Mrd. US-Dollar starken Nachtragshaushalt angekurbelt werden. Damit werden neben konsumorientierten Maßnahmen umfangreiche Infrastrukturprojekte gefördert.

Die neuen Staatsausgaben werden mutmaßlich durch Staatsanleihen mit unendlicher Laufzeit finanziert. Da kaum ein Anleiheinvestor weltweit bereit sein dürfte, japanische Anleihen zum aktuellen Niedrigzinsniveau bei zusätzlichem Währungsrisiko zu erwerben, kommt als Käufer nur die Bank of Japan in Frage. Ihre Rolle als „Hausbank der japanischen Regierung“ wird zukünftig noch bedeutender. Aktuell beträgt der Anteil der von ihr gehaltenen japanischen Staatsanleihen bereits rund 35 Prozent. Über noch umfangreichere Anleihekäufe drückt sie die Anleiherenditen noch mehr und damit auch die Kreditzinsen für die japanische Volkswirtschaft.

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Sicherlich ist der weitere Anstieg der japanischen Staatsverschuldung, die bereits deutlich mehr als doppelt so hoch wie die Wirtschaftsleistung ist, äußerst bedenklich. Doch wenn Japan schon neue Schulden macht, sind sie in Form von Infrastrukturmaßnahmen noch am besten investiert. Denn diese staatliche Standortförderung schafft einen wirtschaftsfreundlichen Nährboden für private Folgeinvestitionen und Multiplikatoreffekte bei Konsumenten.

Infrastrukturmaßnamen sind auch der Königsweg bei der Belebung der Konjunkturschwäche Europas. Die Sintflut der EZB würde nicht mehr einseitig nur in überhitzte Anlageblasen fließen, die damit immer mehr Gefahr laufen, zu platzen. Sie käme der Realwirtschaft, also Arbeitsplätzen, Konsum, Steuereinnahmen und damit sozialem Frieden zugute, der schließlich auch eine Therapie gegen die um sich greifende Eurosklerose, die Zersetzung Europas, ist. Würden die großen Kapitalsammelstellen beteiligt, kämen diese aus ihrem Niedrigzins bedingten Anlagenotstand heraus und endlich wieder in den Genuss von renditeattraktiven Investmentobjekten.

Und nicht zuletzt bekämen die Aktienmärkte endlich wieder fundamentales Fleisch an den abgenagten Knochen der reinen Liquiditätshausse.

Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung – US-Berichtsaison findet kaum Beachtung

In den USA setzt sich im Rahmen der Berichtsaison für das II. Quartal 2016 der negative Gewinntrend von Corporate America zum fünften Quartal in Folge fort. Ein positives Gewinnwachstum in der Automobil- und Baubranche sowie bei Versorgern wird dabei von deutlichen Gewinnrückgängen im Energie-, Finanz- und Technologiesektor – den gewichtigsten Branchen im S&P 500 Index – überkompensiert. Insgesamt wurde dieser Dramatik zwar schon im Vorfeld durch gesenkte Gewinnerwartungen entgegengewirkt, so dass „positive“, jedoch wenig aussagekräftige Gewinnüberraschungen an der Tagesordnung sein dürften. Grundsätzlich fehlt US-Aktien jedoch die gewinnseitige Unterstützung.

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Die USA bleiben von politischen Krisen weitgehend verschont, so dass das Land vom Status eines sicheren Hafens profitieren kann. Daneben kommt den USA ein wettbewerbs- und marktwirtschaftlich fruchtbarer Nährboden für Investitionen zugute, während sich in Industrieregionen wie Japan oder Europa selbst die freizügigste Geldpolitik als weitgehend kraftlos erweist, die hartnäckigen Konjunkturprobleme, die der wirtschaftspolitischen Vernachlässigung der Standortqualität geschuldet sind, zu mildern. Eine laut Konjunkturbericht der US-Notenbank zumindest halbwegs stabile US-Wirtschaft, die keine weiteren Zinserhöhungen zulässt und insofern keine geldpolitischen Kollateralschäden an den Finanzmärkten hervorruft, sorgt für weitere Unterstützung für US-Aktien, die ihren Ausdruck in neuen Allzeithochs beim S&P 500 und Dow Jones Industrial Average gefunden hat.

Sicherlich werden die politischen und (finanz-)wirtschaftlichen Börsen ihren Einfluss auf die Aktienmärkte behalten. Auch die italienische Bankenkrise birgt latentes Verunsicherungspotenzial. Die Argumente Zeitgewinn und uneingeschränkte (geld-)politische Rettung, die auch vor Beugung von Stabilitätsregeln nicht Halt macht, werden jedoch von den Finanzmärkten ebenso hoch gewichtet.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich der VDAX Volatilitätsindex, der die mögliche DAX-Schwankungsbreite für die nächsten 30 Handelstage misst, bereits deutlich risikoentspannter und liegt ohnehin auf vergleichsweise sehr schwachem Niveau.

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Charttechnik DAX und Euro Stoxx 50 – Die Erholung hält an

Charttechnisch wartet im DAX auf dem Weg nach oben die erste Barriere an der 200-Tage-Linie bei aktuell 10.061 Punkten. Es folgen weitere Widerstände im Bereich zwischen 10.077 und 10.123 sowie bei 10.340 und 10.485. Darüber tritt die nächste Hürde am mittelfristigen Abwärtstrend bei 10.622 Punkten in den Vordergrund. Im Falle einer neuerlichen technischen Reaktion gibt die schwache Unterstützung zwischen 9.701 und 9.660 Punkten Halt. Darunter liegt die breite Unterstützungszone zwischen 9.400 und 9.214, auf die der seit 2009 bestehende langfristige Abwärtstrend bei 9.137 folgt.

Beim Euro Stoxx 50 liegt nach oben der nächste Widerstand bei 2.904 Punkten. Wird dieser durchbrochen, treten Barrieren im Bereich zwischen 2.990 und 3.000 sowie 3.062 in den Vordergrund. Darüber liegen weitere Widerstände bei 3.086 und 3.106 Punkten. Auf der Unterseite liegt die erste Unterstützung bei 2.800 Punkten. Wird diese unterschritten, müssen weitere Abgaben bis 2.756 und zum Jahrestief bei 2.672 einkalkuliert werden.

Der Wochenausblick für die KW 29 – Der Brexit als Fata Morgana

Die Brexit-Diskussion wird in Sommerurlaub gehen.

In den USA signalisiert der anhaltende Seitwärtstrend bei Baubeginnen und -genehmigungen eine verhaltene Situation auf dem US-Immobiliensektor. Impulse für die US-Industrie gemäß dem von der Philadelphia Fed veröffentlichten Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe bleiben ebenfalls aus.

In der Eurozone dürfte sich der Brexit im Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe kaum niederschlagen. Entsprechend stabil werden in Deutschland die ZEW Konjunkturerwartungen ausfallen. Die EZB wird auf ihrer geldpolitischen Sitzung zunächst nicht weiter in die Offensive gehen, sondern auf Verbalerotik setzen.

RobertHalverEin Beitrag von Robert Halver.

Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.

Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen