Die fatale Rolle der Politik an den europäischen Finanzmärkten
In Europa und an seinen Finanzmärkten müsste die Stimmung eigentlich ziemlich ungetrübt sein: Eine epochale Konjunkturkrise in China scheint auszubleiben, die höheren Rohstoffpreise haben die weltkonjunkturelle Kaufkraft der Rohstoffländer stabilisiert und die US-Leitzinswende hat auch ihren Schrecken verloren. Auch die anstehende Berichtsaison für das I. Quartal wird kein Ungemach bringen, weil zugegebenermaßen die Erwartungen im Vorfeld von Unternehmensseite bereits deutlich reduziert wurden und insofern „positive“ Gewinnüberraschungen unvermeidbar sind. Selbst der erstarkte Euro produziert keine große Ernüchterung. Denn vor allem deutsche Industrie- und Exportunternehmen haben schon mit viel höheren Euro-Notierungen gut leben können. Nicht zuletzt sorgt die Rekordausschüttung der DAX-Unternehmen von annähernden 31 Mrd. Euro für gute Aktienlaune, auch, da viele Anleger dieses Geld erneut in Aktien anlegen.
Also nicht nur für die Karnickel auf Flur und Heide, sondern auch bei den Aktienmärkten müssten sich doch eigentlich warme Frühlingsgefühle einstellen, oder?
Kritik der Bevölkerung an Europa ist politisch nicht gewünscht
Es ist wie bei Radio Eriwan: Im Prinzip ja, aber dem stehen die wenig milden politischen Außentemperaturen im Wege. Und darauf reagieren auch die EU-Bürger immer kühler. So haben sich die Holländer in einem Referendum gegen ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ausgesprochen. Damit haben die Holländer nicht gegen die Europäisierung der Ukraine votiert. Es war eine Protestwahl gegen die EU an sich. In ihrer Abgehobenheit verweist die offizielle EU-Politik darauf, dass das Votum rechtlich nicht bindend sei und überhaupt nur 32 Prozent der Wähler zur Urne gegangen sind. Ich bin mir sicher, dass auch bei 100 Prozent Beteiligung kein anderes Ergebnis herausgekommen wäre. Die geringe Wahlbeteiligung zeigt, dass vielen Holländern das Thema Europa mittlerweile ähnlich egal ist, wie ob das Frühstücksbrot mit Gouda oder Edamer belegt ist. Einige Politiker fordern jetzt sogar, man solle Referenden zu Europa abschaffen. Es kann wohl nicht sein, was nicht sein darf. Man kann das Gemeinschaftswerk der EU mit einer privaten Beziehung vergleichen. Ist eine Beziehung denn schon deshalb gefährdet, nur weil sich die Partner kritisieren? Eben weil man Probleme offen ansprechen kann, ist eine Beziehung gesund. Kritiklosigkeit und Resignation sind der Anfang vom Ende einer Beziehung. Die EU-Politik darf ihr Volk niemals vergessen.
Politiker sollten nicht verstimmt über Volkes Stimme sein, sondern sich fragen, was sie falsch gemacht haben, zum Beispiel in puncto der früher heiligen Stabilitätskriterien, die alternativlose Bedingung für die Schaffung der Stabilitätsunion in Europa waren. Heute ist es politisch längst alternativlos geworden, Stabilitätskriterien zu brechen. Und dieser Stabilitätsrechtsbruch treibt immer seltsamere Blüten, siehe z.B. Griechenland. Hinter vorgehaltener Hand weiß doch jeder Politiker, dass das Land an einem Schuldenschnitt von mindestens 50 Prozent nicht vorbeikommt. Die aktuelle Schuldentragfähigkeit von Griechenland ist ähnlich stark ausgeprägt wie eine Sandburg am Mittelmeer, die den Wellen standhalten soll. Daher muss ein politisch schmutziger gesichtswahrender Deal zur Schaffung einer künstlichen Schuldentragfähigkeit her: Es wird keinen klassischen Schuldenschnitt geben, denn in diesem Fall wäre das Geld u.a. des deutschen Steuerzahlers vom Wind in der Ägäis verweht. Futsch ist es zwar ohnehin, aber dann wäre der Vermögensverlust für den Wähler tatsächlich eingetreten. Daher werden die Fälligkeiten so weit in die Zukunft verlagert und ohne Zinszahlungen verlängert, dass die Wähler sie in der Zwischenzeit vergessen. Mit Atommüll macht man es doch genauso.
Die Hand, die gibt, ist die erste, die gebissen wird
Und die europäische Geldpolitik? Sie hat ungefähr so viel stabilitätspolitische Substanz wie Wackelpudding der Sorte Waldmeister. Mario Draghi hat den Kapitalismus in der Eurozone de facto abgeschafft, weil er den Zins abschaffte. Damit wird nicht zuletzt die Altersarmut der Europäer, die mehrheitlich auf Zinspapieren gegründet ist, zur tickenden Zeitbombe. Und die geldpolitische Überholspur wird noch ausgebaut. Es ist ähnlich wie beim Sozialismus: Den Mario in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf. Denn die Konjunktur der Eurozone springt ähnlich schwerfällig an wie ein alter Dieselmotor bei Frost. Und da aufkaufbare Staatsanleihen zur aussterbenden Spezies werden könnten, kauft die EZB auch immer mehr Unternehmensanleihen auf. Wann werden wohl Mittelstandsanleihen bei unseren Währungshütern hoffähig werden? Warum kauft die EZB nicht gleich Kreditkartenverbindlichkeiten auf?
Vor diesem Hintergrund ist jede Kritik an der EZB grundsätzlich gerechtfertigt, die mit der Politik der früheren Bundesbank so viel gemeinsam hat wie Wattebällchen mit Stahlbeton. Kommt Kritik allerdings von Politikern, entbehrt sie oftmals nicht einer unglaublichen Heuchelei. Es ist doch der blanke Hohn, wenn sich die deutsche Politik scheinheilig über die Aufkaufpraxis der EZB beschwert. Alternativ hätten wir heute zur Stützung unserer angeschlagenen eurozonalen Familienmitglieder hohe Risikoaufschläge auf deutsche Staatspapiere zu zahlen. Ohne die Renditedrückung der EZB auf seine Schuldtitel hätte Deutschland niemals Überschüsse im Bundeshaushalt erzielt. Und nur so kann Deutschland bis 2020 das Maastricht-Stabilitätskriterium einer Verschuldung von 60 Prozent zur Wirtschaftsleistung schaffen. An der wachstumsfreundlichen Reformpolitik der Bundesregierung liegt es sicherlich nicht, denn die gibt es nicht. Beim kleinen Koalitionspartner SPD wird der früher propagierte Begriff „Agenda 2010“ heute ähnlich vermieden wie „Kölsch“ in Düsseldorf oder „Alt“ in Köln.
Auch mit Blick auf die anderen reformunbeweglichen und damit investitions-, konsum- und schließlich wachstumsgehemmten Euro-Staaten muss Draghi derjenige bleiben, der für eine stabile, volkswirtschaftliche Seitenlage sorgt. Hinter vorgehaltener Hand sind die Wirtschaftspolitiker der EU sehr dankbar für die Spendierlaune der Geldpolitik, die den Scheck ihrer Reformfaulheit deckt.
Wenn jetzt mit Krokodilstränen die geistig-moralische Wende der Geldpolitik angemahnt wird, ist das scheinheilig. Denn dann würde die schwarze Null im Bundeshaushalt zur Illusion. Übrigens, wie würden wohl die an Zinslosigkeit gewöhnten Finanzmärkte reagieren, wenn die EZB angesichts europäischer Überschuldung und Blasenbildung an den Rentenmärkten auf geldpolitischen Umkehrschub schalten würde? Einen ersten Vorgeschmack lieferte ihre Reaktion auf eine nur leichte Zinserhöhung der Fed im Dezember 2015. Die jetzt so besorgte Politik hätte viel früher und vehementer den Mund aufmachen müssen. Erst kommt das Fressen und dann die Moral.
Europa muss sich endlich entscheiden, ob es Hammer oder Amboss sein will
Europa funktioniert leider auch nicht in der Terrorabwehr. Für mich ist es höhnisch, wenn Politiker davon sprechen, dass es keine 100 Prozent Sicherheit gegen islamistische Attacken geben kann und es gleichzeitig versäumt, die national vorhandenen Sicherheitsstrukturen grenzüberschreitend und optimal zu vernetzen. Die europäische Terrorbekämpfung scheitert an nationalen Egoismen und Befindlichkeiten mit der Konsequenz, dass mit modernen Waffen ausgestattete, international operierende Terroristen nicht ordentlich bekämpft werden können.
Und ein Ausbund an Gemeinschaftssinn der EU ist es auch nicht, wenn die Grenzsicherung der EU einem fremden Land mit eindeutigen Eigeninteressen überlassen wird. Das muss der größte Wirtschaftsraum der Welt – das ist eben die EU – allein schaffen. Wohl und Wehe der Außengrenzen Europas können nicht davon abhängig sein, ob jemand in Südost-Europa gut oder schlecht geschlafen hat. Europa darf sich niemals erpressen lassen. Daher kann es auch keine Freiheitsgrade hinsichtlich der Freiheit von Presse, Kunst und Satire geben. Für Satire müssen offene Grenzen und eine große Willkommenskultur herrschen, auch wenn sie zugegebenermaßen zuletzt heftig und derb ausgefallen ist. Wenn die EU-Politik der Zensur erst einmal die Tür auch nur einen winzigen Spalt aufmacht, bekommt man sie nicht mehr zu. Satire ist kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern die quicklebendige Verteidigung von Menschenrechten. Was Politiker und sogar der Papst täglich ertragen, sollten auch andere aushalten können. Das Ertragen von „majestätsbeleidigender“ Satire zeigt auf majestätische Weise, dass man ein majestätischer Demokrat ist. Übrigens, wenn das „Opfer“ Satire ignoriert, verliert der Satiriker schnell die Lust am Objekt der Satire.
Statt für Frühlingsgefühle sorgt die Politik eher für Frühjahrsmüdigkeit in Europa
Insgesamt hat Europa große Probleme mit der Erfüllung der drei klassischen Aufgaben eines Staats- bzw. staatsähnlichen Wesens: Die Sicherung der (Außen-)Grenzen, die Gewährleistung der inneren Sicherheit und die Schaffung einer wirtschaftlichen Perspektive für eine möglichst breite Bevölkerung.
Und da fragt man sich noch, warum die Briten skeptisch gegenüber Europa sind. Bei der Brexit-Frage am 23. Juni 2016 wird es ohnehin eng, weil sich der EU-Befürworter David Cameron vor kurzem als großer Fan von Janoschs Kindergeschichte „Oh, wie schön ist Panama“ outete. Ich kann nur hoffen, dass die Briten – trotz ihrer Küche – bei uns bleiben. Ansonsten wird die politische EU-Krise zur Vertrauenskrise Europas. Ein heißes Argument für Investitionen in der EU ist das sicherlich nicht und früher oder später werden auch die Finanzmärkte frösteln.
Ein Beitrag von Robert Halver.
Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.
Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de