Brexit – Und jetzt?

Der Schreck ist groß, nachdem die Briten mit einer klaren Mehrheit von 52 zu 48 Prozent für den EU-Austritt gestimmt haben. Der EU droht eine nachhaltige europäische Polit-Krise, denn auch in anderen Euro-Staaten wie Frankreich und in den Niederlanden werden jetzt die Forderungen nach EU-Referenden lauter. Das politische Europa fungiert damit als Damoklesschwert. Zwischenzeitlich sorgt allerdings die mittlerweile krisenerprobte „schnelle Eingreiftruppe“ der Notenbanken für Krisenlinderung. Nicht zuletzt wegen den höchstrichterlichen Weihen des Bundesverfassungsgerichts fungiert die lockere Geldpolitik der EZB weiter als Absicherung für die europäischen Aktienmärkte.

Wie geht es weiter für die ohnehin verhaltene Konjunktur und die deutschen Aktienmärkte?

Vor dem Hintergrund des Votums der Briten pro EU-Austritt sind die vor dem Brexit-Referendum ermittelten positiven ZEW Konjunkturerwartungen mit Vorsicht zu genießen. Das gilt auch für die ifo Geschäftserwartungen, die ihren Aufwärtstrend mit einem Indexwert von 103,1 nach 101,6 zum vierten Mal in Folge fortsetzen. Angesichts der konjunkturellen Verunsicherung und den finanzwirtschaftlichen Verwerfungen wäre eine zukünftig zurückhaltendere wirtschaftliche Stimmung wenig verwunderlich. Ohnehin ist die Stimmungsoffensive im Vergleich zu 2013/2014 und vor allem zu 2015 bislang weniger dynamisch ausgeprägt. Die verhaltenen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die nun akute eurosklerotische Stimmungseintrübung wirken als Bremsklotz für die Investitionsbereitschaft deutscher Unternehmen und die hiesige Exportwirtschaft.

kw 25 - 01 - ifo und ZEWSetzt man die ifo Geschäftserwartungen und ifo Geschäftslage zueinander in Beziehung, befindet sich die deutsche Wirtschaft zwar in der Boom-Phase. Es bleibt abzuwarten, ob sie diese Position aufgrund des britischen Verunsicherungspotenzials aufrechterhalten kann.

kw 25 - 02 - ifo KonjunkturmatrixMit zukünftigen Abwärtsrisiken verbunden sind auch die zuletzt positiven Erwartungen für das Verarbeitende Gewerbe in Deutschland, aber auch in der Eurozone gemäß Einkaufsmanagerindex von Markit. Beide Indices verlaufen oberhalb der Expansion anzeigenden Schwelle von 50. Frankreich unterstreicht mit einem erneuten Ergebnis klar unter dieser Schwelle jedoch seinen Status als wirtschaftlich kranker Mann Europas.

kw 25 - 03 - PMI VGDagegen ist eine Abwärtstendenz der Einkaufsmanagerindices für das Dienstleistungsgewerbe unverkennbar. Immerhin befinden sich die Indices für Deutschland und die Eurozone weiter im expansiven Bereich, den Frankreich jedoch wieder leicht unterschritten hat.

kw 25 - 04 - PMI DLDer seit 1992 markante historische Zusammenhang, wonach steigenden/fallenden ifo Geschäftserwartungen im Jahresvergleich ebenso Kursgewinne/-verluste beim DAX folgten, hat sich seit Mitte 2012 grundsätzlich aufgelöst. Denn das geldpolitische Rettungsversprechen der EZB von Juli 2012 mit Start der tatsächlichen Liquiditätsoffensive ab Januar 2015 und EU-politische Entwicklungen sind gegenüber Fundamentaldaten bei der Aktienentwicklung deutlich in den Vordergrund getreten. Bis sich der Nebel der Unsicherheit im weiteren Umgang der EU mit Großbritannien gelichtet hat, dürfte der politische Einfluss anhalten.

kw 25 - 05 - ifo und DAXAuch die deutschen Nebenwerte sind nicht vor der grassierenden Eurosklerose gefeit. Allerdings werden sie noch am ehesten fundamental bewegt. Seit 2015 entwickeln sich MDAX und SDAX deutlich besser als der Aktienleitindex DAX. Sie setzen sich aus den Industrieperlen des deutschen Mittelstands zusammen, die mit ihrem spezialisierten Industrie-Know How und zahlreichen wertvollen Patenten in vielen konjunktursensitiven Bereichen Weltmarktführer sind. Vor diesem Hintergrund haben sich vor allem Werte aus dem MDAX während der Euro-Krise 2012 deutlich resistenter gegenüber politischen Krisen gezeigt. Insgesamt profitieren Mittelstands-Aktien einerseits von der zunehmenden Übernahmephantasie, die auf der Finanzierungsseite durch die Zinslosigkeit und auf der Investmentseite durch massive Anlagenotstände geprägt ist. Andererseits kommt ihnen die Globalisierung zugute, die die industriellen Wettbewerber dazu zwingt, über den Zukauf von Spitzentechnologie tatsächlich Weltspitze zu bleiben bzw. zu werden. Nicht zuletzt wegen China, das statt bisher von quantitativem Pionier- auf qualitativ nachhaltiges Wachstum setzt und nebenbei seine in unattraktiven Staatsanleihen gehaltenen massiven Devisenreserven sinnvoll in renditeträchtiges Sachkapital diversifizieren will, wird dieser Prozess der Outperformance von börsennotierten Mittelstandsunternehmen weiter anhalten.

kw 25 - 07 - SDAX und MDAXBundesverfassungsgericht gibt der EZB einen Blankoscheck für Anleiheaufkäufe

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat entschieden, dass der Aufkauf von Staatsanleihen einzelner angeschlagener Euro-Staaten rechtmäßig ist. Zwar wurden Bedingungen für derartige Anleihekäufe formuliert. Doch Auflagen, wonach z.B. Ankäufe vorher nicht angekündigt werden dürfen oder das Volumen der Ankäufe begrenzt ist, sind reine Augenwischerei, denn sie konterkarieren die finanzwirtschaftliche Rettung des betreffenden Euro-Landes durch die EZB nicht. Es ist eher zu vermuten, dass diese markant vorgetragenen Bedingungen vor allem der Wahrung der stabilitätspolitischen Illusion der EZB geschuldet sind, die ja Rechtsnachfolger der für ihre Stabilitätspolitik bekannten Deutschen Bundesbank ist. Man könnte auch von stabilitätspolitischen Feigenblättern sprechen.

Diese verfassungsrechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der geldpolitischen Stützung eines einzelnen Euro-Staates ist ohnehin nur eine Scheindebatte. Aus diesem sogenannten OMT-Programm (Outright Monetary Transactions) ist bislang noch kein einziger Cent „Rettungsgeld“ geflossen. Das liegt zunächst daran, dass bereits die Ankündigung Mario Draghis im Juli 2012, zur Not unbegrenzt Staatspapiere eines prekären Euro-Landes zu kaufen, die Staatsschuldenkrise Euro-weit entschärft hat. Denn kein noch so Euro-feindlicher Spekulant legt sich mit einer großen Notenbank an, die über das unbegrenzte Geldschöpfungsmonopol verfügt.

Im Übrigen hat ein anderes tatsächlich stattfindendes Aufkaufprogramm für Staatsanleihen (das sog. PSPP, Public Sector Purchasing Program) alle Zweifel an der Verhinderung einer erneuten Finanzkrise wie zwischen 2011 und 2012 beseitigt. Denn mittlerweile kauft die EZB monatlich für 80 Mrd. Euro Staatspapiere praktisch aller Euro-Länder gemäß des jeweiligen Anteils des Euro-Lands am Eigenkapital der EZB an. Damit pariert die EZB den Vorwurf der verdeckten Finanzierung des Haushaltsdefizits eines einzelnen Landes. Nun könnte man behaupten, dass Deutschland nicht darauf angewiesen ist, dass die EZB jeden Monat das gewaltige Volumen von etwa 25 Mrd. Euro an deutschen Staatspapieren – Deutschland ist der größte Eigenkapitalgeber der EZB – ankauft und damit ausgerechnet dem Land mit einer der besten Bonitätseinstufungen in der Eurozone vergünstigte Renditen zukommen lässt. Viel dringender erforderlich ist dieser Effekt doch bei angeschlagenen Euro-Ländern im Mittelmeerraum. Doch die EZB vertraute auf den „Karawaneneffekt“: Anleiheinvestoren, die keine attraktiven Renditen mehr bei deutschen Staatspapieren vorfinden, werden auf renditeträchtigere „Oasen“ von Staatspapieren anderer Euro-Länder ausweichen, die damit neben den ohnehin stattfindenden EZB-Aufkäufen auch noch in den Genuss einer zusätzlichen Renditedrückung kommen. Vor diesem Hintergrund ist auch zukünftig nicht mit dem tatsächlichen Einsatz des OMT-Programms zu rechnen.

Und dennoch hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine über das OMT-Programm weit hinausgehende, große, weil „stabilitätsmoralische“ Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht erkennt damit die Notwendigkeit des planwirtschaftlichen Eingreifens der EZB in die früher marktwirtschaftlich organisierten Anleihemärkte an. Deutschland als letzter Stabilitäts-Fels von Gibraltar hat damit verfassungsrechtlich der EZB einen Freibrief erteilt. Nach dem Urteil der Richter in roten Roben haben zukünftige Verfahren gegen die geldpolitische Allmacht der EZB noch weniger Aussicht auf Erfolg. Die letzten Stabilitätshüllen der EZB sind gefallen. Sie steht nun in ihrer prallen nackten Schönheit vor uns.

Das freut nicht zuletzt die Aktienmärkte. Große Aktienkurseinbrüche aufgrund politischer oder fundamentaler Argumente werden durch die Liquiditätsausstattung der EZB mindestens behindert. Denn die größte Alternativanlageklasse „Zinsvermögen“ ist durch die zins- und renditedrückende Wirkung der Geldpolitik immer unattraktiver geworden. Das von der Geldpolitik gespannte Sicherheitsnetz bleibt für die Aktienmärkte weiter intakt.

kw 25 - 06 - EZB und DAXAktuelle Marktlage und Anlegerstimmung – Wie kurz sind die Beine der politischen Börsen?

Das überraschend deutliche „Brexit“-Votum der Briten sorgt für ein unerwartetes Beben an den internationalen Finanzmärkten, die auf Basis der letzten offiziellen Umfragewerte einen EU-Austritt fast vollständig ausgepreist hatten. An den Devisenmärkten fällt das britische Pfund auf handelsgewichteter Basis auf den tiefsten Stand seit 2013, während sich Anleger in den japanischen Yen, Schweizer Franken und US-Dollar als sichere Häfen flüchten.

kw 25 - 08 - WährungenEbenso heftig ist die Reaktion an den Aktien-, Renten- und Rohstoffmärkten. Während DAX und Euro Stoxx 50 in der Spitze knapp über 10 und der britische FTSE 100 rund 8 Prozent verlieren, profitieren Gold und deutsche Staatsanleihen.

kw 25 - 09 - AssetklassenDie EU-politische Krise weckt bei Investoren böse Erinnerungen an die Immobilienkrise 2008 bzw. die Euro-Krisen 2011/12. Und selbst nach dem reinigenden Gewitter an den Aktienmärkten wird die Verunsicherung ein nachhaltiger Begleitfaktor der Börsen sein. Nimmt man den Volatilitätsindex VDAX-New für die nächsten 30 Handelstage als Risikomaßstab, zeigt sich allerdings, dass die Finanzmärkte aktuell noch von früheren Unsicherheitsniveaus entfernt sind.

kw 25 - 10 - VolaNach dem die Aktien-Wunden geleckt sind, wird man eine zweite Einschätzung vornehmen. Die britischen Handelsbeziehungen zur EU werden ja nicht über Nacht gekappt. Und in der Zwischenzeit werden die Notenbanken ein Überschwappen auf die Anleihemärkte zur Verhinderung einer erneuten Staatsanleihenkrise verhindern. Die Bruderschaft der internationalen Notenbanken wird alles dafür tun, um Schaden von der Weltwirtschaft abzuwenden. So hat die Schweizer Nationalbank bereits am Devisenmarkt interveniert, um eine konjunkturschädliche Aufwertung des Schweizer Franken zu dämpfen und auch die Bank of England sowie die EZB werden nicht mit zusätzlichen Maßnahmen zur Stützung von Konjunktur und Finanzmärkten zögern. Und auch die Fed wird ihre Zinswende auf unbestimmte Zeit vertagen.

Auf längere Sicht hinterlässt der Brexit jedoch eine politisch offene Flanke. Wenn Brüssel und die führenden EU-Staaten aus diesem Warnschuss nichts oder nur wenig gelernt haben und eine Erneuerung der EU an Haupt und Gliedern verweigern, ist die Gefahr der politischen Zersetzung nur schwer aufzuhalten. Vor jedem nationalen Votum, vor jeder Parlamentswahl in Europa würde die politische Unsicherheit zunehmen.

Als absolute Grundbedingung für Investitionen verlangen internationale Anlagen stabile politische Verhältnisse. Sind diese nicht gegeben oder drohen sie verloren zu gehen, wird um Europa ein Bogen gemacht und Asien und Amerika begünstigt. Die EU würde als Investitionsstandort schließlich immer unattraktiver und damit auch ihre Aktienmärkte.

Charttechnik DAX und Euro Stoxx 50 – Erholung nach dem Rutsch?

Charttechnisch liegen im DAX die ersten Widerstände bei 9.705, 10.077 und knapp darüber bei 10.123 Punkten, gefolgt von einer starken Barriere bei 10.485. Sollte dagegen die Unterstützung bei 9.582 Punkten durchbrochen werden, treten weitere Haltelinien bei 9.432 und 9.332 in den Vordergrund. Darunter warten eine noch nicht geschlossene Kurslücke zwischen 9.079 und 8.967 Punkten, der langfristige Aufwärtstrend bei 9.073 und das bisherige Jahrestief bei 8.699 Punkten.

Im Euro Stoxx 50 warten auf dem Weg nach oben die ersten Widerstände bei 2.800 und darüber bei 2.860 Punkten. Werden diese Hürden überwunden, warten weitere Barrieren bei 2.904 und zwischen 3.062 und 3.106, die durch eine weitere bei 3.103 – relevant ist hier die 200-Tage-Linie – verstärkt werden. Darüber liegen weitere Widerstände bei 3.137 und 3.200 Punkten.

Der Wochenausblick für die KW 26 – Was macht die EU mit den Briten?

Auf dem EU-Gipfeltreffen am 28. und 29. Juni werden die Gespräche zur genauen Umsetzung des britischen EU-Austritts aufgenommen. Da sich dieser Prozess über zwei Jahre hinziehen kann, ist zunächst nicht mit konkreten Ergebnissen zu rechnen.

Am Sonntag wählt Spanien zum zweiten Mal nach Dezember ein neues Parlament. Die einzige nennenswerte Änderung gegenüber dem Dezember-Ergebnis dürfte sein, dass Podemos wohl zusammen mit einem neuen Linksbündnis die Sozialisten überholen wird. Eine stabile Regierung ist nur in Form einer großen Koalition aus Konservativen und Sozialisten vorstellbar. Doch sind sich beide Parteien spinnefeind. Auch nach dem nächsten Wahlgang sind somit zähe Verhandlungen über eine Regierungskoalition zu erwarten, die das Land wirtschaftspolitisch lähmen.

In China unterstreichen der erneut – wenn auch nur minimal – schwächere offizielle als auch der vom privaten Finanzdatenanbieter Caixin veröffentlichte Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe die weiterhin verhaltene Konjunktursituation.

In den USA signalisieren einerseits erneut verlangsamte Konsumausgaben im Mai und andererseits eine Befestigung des vom Conference Board ermittelten Verbrauchervertrauens die fragile Verfassung der Binnenkonjunktur. Die Stimmung im Verarbeitenden Gewerbe bleibt laut ISM Index angeschlagen.

In der Eurozone suggeriert die Inflationsschätzung für Mai einen ungebrochenen Deflationsdruck und auch das von der EU-Kommission ermittelte Wirtschaftsvertrauen bleibt unbefriedigend. In Deutschland lassen verbesserte Einzelhandelsdaten und ein stabiles GfK Verbrauchervertrauen auf einen zumindest robusten Konsum schließen.

RobertHalverEin Beitrag von Robert Halver.

Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.

Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de