Wie viel Aufregung steckt noch im Rest-Aktienjahr 2016?

Jetzt, da die Uhren auf Winterzeit umgestellt wurden, die Menschen bemäntelt über die Straße laufen und Supermärkte wieder randvoll mit Lebkuchen sind, geht das Jahr 2016 allmählich zur Neige. Und was ist in den letzten Wochen des Jahres noch für die Aktienmärkte zu erwarten?

Bislang konnte man sich über zu viel Risiko an den Aktienmärkten ja nicht beschweren. Betrachtet man den sogenannten VDAX-New Volatility Index, der die Schwankungsbreite des DAX für die nächsten 30 Handelstage misst, ist lockere Unaufgeregtheit wohl die beste Beschreibung: Mit einem aktuellen Wert von ca. 21 verläuft der VDAX auf vergleichsweise bemerkenswert niedrigem Niveau. Bemerkenswert niedrig, weil unsere Finanzwelt ja einer regelrechten Plage an Krisen ausgesetzt ist: Geopolitische Krisen, ein Europa, das stabilitäts- und wirtschaftspolitisch und mit Blick auf seine Bankenkrisen eher ein „Eur-Opa“ ist, ein Brexit, der noch nicht annähernd gegessen, geschweige denn verdaut ist, ein China, das als früherer Casanova der Weltkonjunktur Ermüdungserscheinungen zeigt sowie eine chronische Terrorgefahr – man könnte die Liste noch fortsetzen – sind nun wirklich nicht die Zutaten für Risikolosigkeit an den Aktienmärkten. Und die laufende Berichtsaison zum III. Quartal ist nur deshalb kein Rohrkrepierer, weil die Gewinnerwartungen der Analysten auf Geheiß der Unternehmen vor Veröffentlichung so gekürzt wurden, dass die tatsächlichen Ergebnisse nur positiv überraschen können. Fundamentale Aussagekraft sieht anders aus.

Aktuelle Krisen brauchen sich hinter früheren nicht zu verstecken

Seit 1998 haben schon deutlich geringere Risikopotenziale für dramatische Verunsicherung mit viel Schwankungsbreite bei Aktien geführt: Bei der Asien-Krise Ende der 90er Jahre, den Terroranschlägen in New York 2001, der Pleite der Lehman-Bank 2008 oder während der Euro-Schuldenkrise waren Volatilitätszahlen von 40, 60, sogar 80 mit massiven Aktienschwankungen und -einbrüchen wie auf hoher See bei Windstärke 10 üblich.

Während der Dotcom-Krise fiel der DAX von 8.000 auf 2.200 und nach dem Platzen der Immobilienblase von 8.000 auf 3.700 Punkte. Doch offensichtlich schütteln Aktienbörsen heute Krisen ab wie Langhaardackel das Regenwasser in ihrem Fell. Bei so leichtem Seegang wird selbst Anlegern mit empfindlichen Mägen nicht schlecht.

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Der DAX hat seit fast drei Monaten keinen klaren Trend

Der deutsche Aktienleitindex dümpelt seit August auf Tagesschlussbasis zwischen 10.761 und 10.276, eine Spannbreite von gerade einmal 500 Punkten. Er ist so langweilig wie die 50. Wiederholung der Sissi-Trilogie an Weihnachten.

Wie kommt es dazu? Die internationalen Notenbanken behandeln den Druck der Krisen bislang erfolgreich mit geldpolitischem Gegendruck. Es ist wie beim Schnellkochtopf: Der Druck im Inneren mag noch so hoch sein. Solange der Deckel obendrauf dicht hält, sorgen die Krisen nicht für Kursturbulenzen. Allerdings bedeutet dieser Druckausgleich aber ebenso, dass beim Weg der Aktienkurse nach oben der Deckel drauf ist

Hält also der beschauliche Seitwärtstrend an? Bleibt es bis Jahresende beim Druckausgleich oder kommt es zu atmosphärischen Druckveränderungen? Bei der Beantwortung spielen zunächst in den USA zwei herausragende Ereignisse entscheidende Rollen: Die US-Präsidentschaftswahl und die Zinspolitik der Fed.

Bislang galt der Sieg Hillary Clintons als ausgemachte Sache. Ihre E-Mail-Affäre, derer sich jetzt auch das FBI erneut widmet, macht es jedoch noch einmal spannend. Der Vorsprung von Clinton gegenüber Trump hat sich deutlich verkleinert, ist in einigen Umfragen sogar eingeebnet. Mit Blick auf die swing states, die bei Wahlen zwischen demokratischer und republikanischer Mehrheit immer wieder hin und her wandern, ist es zwar immer noch eher wahrscheinlich, dass eine Frau neues Staatsoberhaupt der USA wird. Aber dass der nächste Präsident blonde Haare hat – egal, ob echt oder unecht – ist auch nicht unmöglich. Im Übrigen sollte man sich an den 23. Juni erinnern. An Brexit haben damals selbst die allerwenigsten Briten geglaubt. Ein solcher „Brexit-Moment“ ist auch in den USA nicht ausgeschlossen.

US-Präsidentenwahl als game changer am Aktienmarkt?

Eine Wahl Trumps würde vor allem auf den deutschen exportsensitiven Aktienmarkt wirken wie ein großes Atlantik-Tief auf die Stimmung am Wochenende. Anleger würden sich fragen: Macht der das wirklich oder war das, was er im Wahlkampf vollmundig von sich gab, nur gespielter Populismus, um mediale Aufmerksamkeit zu gewinnen? Muss man sich als deutscher Anleger ernsthaft Sorgen machen, dass der globale Freihandel ab seiner Amtseinführung im Januar 2017 durch einen scharfen US-amerikanischen Protektionismus ersetzt wird? Ich denke zwar, dass in einer Trump‘schen Amtszeit nichts so heiß gegessen würde wie es in Wahlkampfzeiten gekocht wurde. Und seine gewaltigen Hörner würde er sich im harten Washingtoner Alltagsgeschäft und erst Recht durch die knallharte Lobby-Arbeit der freihandelswilligen US-Multis ohnehin schnell abstoßen.

Dennoch, dieses Aktienrestjahr 2016 würde für deutsche Aktien zer-Trump-elt. Mutmaßungen, Gerüchte und Ängste, was der Blondschopf zukünftig tatsächlich so alles vorhat – politisch ist er ja noch unbeleckt wie eine frische Briefmarke – werden Vermögensverwalter und Kapitalsammelstellen wohl kaum veranlassen, bei deutschen Aktien zuzugreifen. Denn sie hängen am freien Welthandel wie meine Katzen an ihrem Lieblingsdosenfutter mit Thunfisch.

Bei einer Wahl Clintons muss sich dagegen kein deutscher Aktienanleger Sorgen machen. Sie steht für berechenbare Kontinuität. Ihre ebenfalls getätigten protektionistischen Aussagen sollten nicht irritieren. Sie sind dem wahltaktischen Umstand geschuldet, das in Amerika populäre Thema „Protektionismus“ nicht allein Trump zu überlassen. Ein Sieg Clintons wird mit dem Hochdruckgebiet „Hillary“ das Tief „Donald“ verjagen und zu einer „Noch mal Glück gehabt“-Entspannungs-Rallye bei deutschen Aktien führen.

Yellens Tanz um das goldene Leitzins-Kalb

Das andere Aktienthema von Bedeutung ist die vermaledeite Zinspolitik der USA. Für mich ist angesichts der schwachen weltkonjunkturellen Verfassung eine Zinserhöhung so unnötig wie Bauchschmerzen. Dennoch muss die aus heutiger Sicht wahrscheinliche Zinserhöhung am 14. Dezember keinen großen Aktienschaden anrichten. Sie ist längst eingepreist und wenn Yellen die Zins-Katze nach vielen Monaten der Anlegerquälerei aus dem Sack lässt, gibt es immerhin Klarheit.

Wirklich aktienrelevant ist die weitere Entwicklung des US-Leitzinses, für die es auch auf der Pressekonferenz nach der Fed-Sitzung Signale geben wird. Ein munteres Schüsseltreiben, die Vision weiterer Zinserhöhungen würden selbst die Clinton’schen Aktienfreuden eintrüben.

Von der Weisheit der weißhaarigen Notenbankchefin Yellen ist jedoch zu erwarten, dass sie angesichts der bereits festzustellenden weltwirtschaftlichen Antriebslosigkeit keinen weiteren Konjunkturschaden durch Zinsernüchterung ins Spiel bringen wird. Der Aktienmarkt würde es als frühes Weihnachtsgeschenk dankbar annehmen.

Welche Darbietungen zeigt der europäische Polit-Zirkus?

Aber auch Europa wird noch in diesem Jahr einen großen politischen Moment haben. Italiens Ministerpräsident Renzi muss am 4. Dezember eine von ihm selbst auf den Weg gebrachte Volksabstimmung über eine Verwaltungsreform überstehen. Diese hat zum Ziel, den Einfluss des italienischen Senats in der römischen Politik zu neutralisieren. Der Senat hat die Funktion einer Art Auffangstation für weg- und hochgelobte Politiker, die sich aufgrund ihrer politischen Altersweisheit einbilden, immer noch ihren unerwünschten Senf dazu geben zu müssen. Damit wird aber ein ordentliches Durchregieren in Italien nur behindert. Den Senat in seine Schranken zu verweisen ist also eine sinnvolle Idee. Das Problem dabei ist allerdings, dass Renzis politisches Schicksal eng mit einer erfolgreichen Zustimmung zum Referendum verbunden ist. Zudem wird dieses Votum von der Partei „Fünf Sterne-Bewegung“ als Abstimmungsinstrument pro oder contra Europa missbraucht. Sollte Renzi diese Abstimmung verlieren, wird es 2017 Neuwahlen in Italien geben. Die Angst vor einem dann drohenden „falschen“ Wahlergebnis zugunsten der Euro-Austrittbefürworter würde die Eurosklerose noch einmal richtig anheizen und die Aktienmärkte belasten.

Jeder Euro-politischen Ernüchterung wird die EZB vorbeugend und massiv entgegenwirken. Von Draghi ist auf der letzten EZB-Sitzung des Jahres am 8. Dezember ein weiteres Weihnachtsgeschenk, ein großes dickes Liquiditätsgeschenk zu erwarten. Wenn es sein muss, lassen sich damit auch stattliche staatliche Wahlgeschenke in Italien finanzieren.

Eigentlich sollten mit einem Wahlsieg Clintons und geldpolitischem Wohlwollen von Yellen und Draghi Aktienmarktverunsicherungen bis Ende 2016 ausbleiben. Die Chancen für eine unaufgeregte Jahresend-Rallye stehen damit nicht schlecht.

Überraschende Brexit-Momente sind aber leider nicht ausgeschlossen. Hoffen wir das Beste. Glück auf!

RobertHalverEin Beitrag von Robert Halver.

Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.

Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de