Die Finanzmärkte verniedlichen den Brexit, die deutsche Industrie nicht

Schwache ifo Geschäftsdaten stellen der deutschen Wirtschaft derzeit ein verhaltenes Konjunkturzeugnis aus. An den Finanzmärkten scheinen die Folgen des Brexit kurzfristig zwar kaum Beachtung zu finden. In der deutschen Industrie bereiten sie jedoch durch Exporteintrübungen und eine drohende Reindustrialisierung und damit Wettbewerbsstärkung Großbritanniens bei gleichzeitiger Reformzurückhaltung Deutschlands durchaus Sorgen.

Die deutsche Wirtschaft schwächelt. Die Geschäftserwartungen der vom ifo Institut befragten Unternehmen trübten sich mit 101,1 nach zuvor 102,1 das zweite Mal in Folge ein. Setzt man ifo Geschäftslage und -erwartungen zueinander in Beziehung, ist die deutsche Wirtschaft stimmungsseitig sogar knapp in die Konjunkturzyklusphase „Abschwung“ eingetreten.

kw 34 - 01 - ifo matrixOhne Zweifel sorgen die beispiellos günstigen geldpolitischen Bedingungen für attraktive Kreditkonditionen, von denen die Bauwirtschaft profitiert. Allerdings zeigt die Stimmung im Handel angesichts der allgemeinen politischen und den Terror betreffenden Verunsicherung Wirkung: Die deutsche Binnenwirtschaft als bislang robuster Konjunkturmotor ist ins Stottern geraten.

Vor allem aber das exportlastige Verarbeitende Gewerbe teilt die Unbekümmertheit hinsichtlich Brexit nicht. Die deutsche Industrie schaut über den finanzwirtschaftlichen Tellerrand hinaus und sieht die Gefahr, dass der britische Austrittsprozess aus der EU zu einer wirtschaftlichen Abkühlung in
Großbritannien mit Exportverlusten auf deutscher Seite führt.

kw 34 - 02 - ifo BrancheTatsächlich ist der Einkaufsmanagerindex für das britische Verarbeitende Gewerbe bereits von 52,4 im Juni deutlich unter die Expansion anzeigende Schwelle von 50 auf aktuell 48,2 gefallen. Aufgrund der Verknüpfung der europäischen Volkswirtschaften wirkt sich die britische Industrieeintrübung selbstverständlich auch auf die Exportstimmung anderer EU-Staaten aus.

kw 34 - 03 - PMIs EuropaNeben der konjunkturellen kommt für die deutsche Industrie längerfristig eine strukturelle Sorge dazu. Nach Brexit wird die britische Politik zur Wiedergewinnung wirtschaftlicher Stärke eine radikale Reindustrialisierung anstreben. Man spricht bereits von Rückabwicklung der Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers, um das Verarbeitende Gewerbe aus seinem Schattendasein zu befreien. Mit auf geringstes Niveau gesenkten Unternehmenssteuern sowie Arbeits- und Sozialkosten bei gleichzeitiger Währungsschwächung will man in Konkurrenz zu den etablierten Industriestandorten treten. Zusätzlich erschwerend für die deutsche Industrie kommt der gleichzeitige Reform-Müßiggang deutscher Wirtschaftspolitik hinzu.

Konjunkturell muss Deutschland mehr sein als der Einäugige unter den wirtschaftlich Blinden

Die vermeintlich robuste deutsche Wirtschaft darf nicht überschätzt werden. Das Wachstum im II. Quartal lag im Vorjahresvergleich zwar bei 1,8 Prozent. In früheren Zeiten galt jedoch erst ein BIP-Anstieg von zwei Prozent als bedeutsam. Die Eurosklerose, Schwellenländer, die sich in puncto Wirtschaftswachstum normalisieren und die USA, die früher wesentlich robustere Wirtschaftsaufschwünge aufwiesen, stellen Handicaps für die deutsche Exportlandschaft dar.

Insofern ist Deutschland gezwungen, seine Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, um weltkonjunkturell konkurrenzfähig zu bleiben. Es geht um die Fortsetzung der Agenda 2010-Reformen, aber auch beherzte Infrastrukturinvestitionen, die zu Nachfolgeinvestitionen der Privatwirtschaft führen. Im Übrigen ist der Prozess der zunehmenden Vernetzung und Digitalisierung, der in den USA und Asien wirtschaftspolitisch dramatisch vorangetrieben wird, auch in Deutschland eine politische Bringschuld. Sich auf den Lorbeeren der aktuell sicherlich noch guten deutschen Industrie auszuruhen, ist fatal.

Derzeit schwache Unternehmensinvestitionen in Deutschland unterstreichen diese insgesamt in die falsche Richtung laufende Entwicklung

Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung – Immerhin Beruhigung an den Nebenkriegsschauplätzen der deutschen Industrie

Für Entspannung in der deutschen Industrielandschaft sorgt die Einigung im Lieferstreit zwischen VW und den Zulieferern der Prevent-Gruppe. Hierdurch wurden negative Rückkopplungseffekte durch Produktionsausfälle auf weite Teile des deutschen Mittelstands – rund 500 Lieferanten hängen an der Produktionskette von VW – verhindert.

Bemerkenswert ist, dass VW den Lieferkonflikt durch umfängliche Zugeständnisse an Prevent – Verzicht auf Schadensersatz, teilweise Rücknahme der Kündigung einer Großkooperation, Zusammenarbeit um sechs Jahre verlängert – auf eigene Kosten beigelegt hat. Schließlich hätten länger andauernde Produktionsausfälle Reputationsrisiken und Umsatzeinbußen bedeutet, wenn potenzielle Kunden zu anderen Autoherstellern abwanderten. Und angesichts des Abgasskandals besteht in Wolfsburg ohnehin kein Interesse an einer zusätzlichen Krise auf industrielogistischer Ebene.

Mit diesem „Sieg“ der Prevent-Gruppe über Volkswagen (WKN: 766403 / ISIN: DE0007664039) dürfte ebenso eine Signalwirkung für die gesamte Zuliefer-Branche verbunden sein. Man könnte sogar den Vergleich anstellen, dass sich das kleine gallische Dorf der Zulieferer gegenüber dem großen Römischen Reich von VW durchgesetzt hat. Bei zu hohem, von Autoherstellern ausgeübtem Preisdruck ist die Androhung von still stehenden Fabrikbändern eine veritable Abschreckung. Diese erstarkte Marktmacht dürfte sich schließlich positiv auf die Gewinnlage der Lieferanten und damit auf die Mittelstandsindices MDAX und SDAX auswirken, die sich auch umfänglich aus Zulieferunternehmen zusammensetzen.

In den USA erweisen sich die auf hohem Niveau verlaufenden Aktienrückkaufprogramme als solide Aktienstütze. US-Unternehmen nutzen die niedrigen Zinsen für durch Fremdkapital finanzierte Aktienrückkäufe, um sich von höheren Dividendenzahlungen zu befreien. Angesichts des aktuell rekordhohen Kursniveaus haben sich Rückkäufen zuletzt zwar abgeflacht, doch ist ihr Aufwärtstrend intakt.

kw 34 - 04 - US-AktienrückkäufeCharttechnik DAX und Euro Stoxx 50 – Bewährungsprobe

Charttechnisch stößt der DAX im Falle einer Fortsetzung der aktuellen Korrektur bei 10.459 auf eine erste Unterstützung. Darunter liegen weitere Haltelinien bei 10.383 und 10.250. Bei einer möglichen Gegenreaktion trifft der Index bei 10.490 und 10.508 Punkten auf erste Widerstände. Darüber liegen weitere Hürden bei 10.679 und 10.743. Schließlich trifft der DAX auf die nächsten Barrieren bei 10.797 und bei 10.991 Punkten.

Wird im Euro Stoxx 50 auf der Unterseite das zuletzt erreichte Tief bei 2.950 durchbrochen, eröffnet sich weiteres Abwärtspotenzial bis zur Unterstützung im Bereich um 2.904 Punkte. Darunter warten weitere Haltelinien bei 2.850 und 2.800. Auf der Oberseite liegen die nächsten Widerstände am Abwärtstrend bei derzeit 2.978 und im Bereich zwischen 2.990 und 3.000 Punkten. Darüber liegen weitere Hürden bei 3.036 (200-Tage-Linie) und 3.062.

Der Wochenausblick für die KW 35 – Die schwierige Suche nach US-zinserhöhungstauglichen Konjunkturdaten

In China unterstreichen sowohl der offizielle als auch der vom Finanzdatenanbieter Caixin veröffentlichte Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe eine stabilisierte Konjunkturstimmung.

In den USA zeichnen ein leichter Rückgang des ISM Index für das Verarbeitende Gewerbe und Auftragseingänge in der Industrie, die ihre Vormonatsschwäche nur knapp ausgleichen können, kein zinserhöhungsverdächtiges Bild. Auch der US-Arbeitsmarktbericht für August – quantitativ fällt er zwar hui, qualitativ jedoch pfui aus – sowie der vom Conference Board veröffentlichte Index zum Verbrauchervertrauen zeigen sich wieder etwas zurückhaltender.

In der Eurozone zeigt sich das von der EU-Kommission veröffentlichte Wirtschaftsvertrauen im August zwar stabil, ohne jedoch dynamische Entwicklungen aufzuweisen. Die Inflationsschätzungen verdeutlichen den anhaltend schwachen Preisdruck.

RobertHalverEin Beitrag von Robert Halver.

Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.

Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de