“Summertime and the living is (maybe) easy”
Der Juni ist für die Finanzmärkte der spannendste Monat des Jahres. Lässt die US-Notenbank mit der Fortsetzung ihrer Leitzinswende am 15. Juni die Zins-Katze aus dem Sack? Droht den Euro-Staatsanleihen Ungemach, weil das deutsche Bundesverfassungsgericht am 21. Juni den Anleiheaufkauf durch die Bundesbank als unrechtmäßig einstuft? Wie entwickelt sich Chinas Wirtschaft weiter, dessen neue Wachstums-Sachlichkeit Bremsspuren in der Weltkonjunktur hinterlässt? Und käme es zum Brexit, müssen wir uns wohl auf einen politisch heißen Sommer einstellen, der auch die EU-Finanzmärkte nicht kalt lassen wird.
US-Notenbank – Schluss mit der Schaukel-Rhetorik!
Weder die vergleichsweise verhaltene Weltwirtschaft noch das Inflations- und Konjunkturumfeld in den USA sprechen für weitere Zinserhöhungen der US-Notenbank. Die Stimmung im US-Dienstleistungssektor hat deutlich an Robustheit verloren und ist auf den tiefsten Stand seit zwei Jahren gefallen. Und auch im Verarbeitenden Gewerbe sieht es perspektivisch nicht nach einer Erholung aus.
Nicht zuletzt unterstreicht die seit Oktober 2015 ernüchternde Schwäche beim US-Stellenaufbau die vergleichsweise schwache US-Konjunktur.
Wenn es dennoch aus Sicht der Fed einer weiteren Zinserhöhung bedarf – mit ihrer Zinserhöhungsrhetorik hat sie selbst Geister gerufen, die sie nun kaum mehr los wird – sollte sie diese im Juli vornehmen. Mit Blick auf die möglicherweise verunsichernde Brexit-Abstimmung am 23. Juni verbietet sich eine Erhöhung am 15. Juni.
Das widersprüchliche Zins-Spiel ohne Ball, ob, wann, unter welchen Bedingungen und um wie viel die Fed ihre Leitzinsen erhöht, sorgt für Verunsicherung an den Finanzmärkten, wo Klarheit und Glaubwürdigkeit der Fed – sie ist nun einmal die Mutter aller Notenbanken – dringend gefordert sind. Würde sie dann im Juli gleichzeitig auch noch verbal signalisieren, dass weitere Zinserhöhungen homöopathisch ausfallen oder ganz ausbleiben, entkämen die Aktienmärkte endlich aus ihrem unsicheren zinspolitischen Niemandsland.
Ist diese Zins-Katze aus dem Sack, könnte sich die rekordverdächtig hohe Liquiditätshaltung von ca. einer Billion US-Dollar bei US-Publikums- und Pensionsfonds ihren Weg in Aktien suchen. Das wird den ohnehin nicht mehr weit vom Allzeithoch entfernten US-Aktienmärkten weiteren Schub geben. Das gilt auch für den Technologieindex NASDAQ Composite, der aufgrund seiner grundsätzlich höheren Bewertung besonders anfällig für Leitzinserhöhungen ist.
Kommt nach dem Brexit die Eurosklerose?
Käme es am 23. Juni zum Brexit, gäbe die EU zunächst geostrategische Größenvorteile gegenüber den USA und China auf. Und geht Großbritannien, geht auch ein Fahnenträger für investitionsfreundliche Standortpolitik. Deutschland ginge ein marktwirtschaftlicher Waffenbruder verloren. Die „Rest-EU“ bestünde aus reformverweigernden Gesundbetern, die Schuldenmacherei mit Bezahlung durch die EZB für eine ordentliche Wirtschaftspolitik halten. Das ist aber genau das süße Gift, das die EU in einer globalisierten Welt Wettbewerbsfähigkeit kostet und langsam aber sicher zu einem Industriemuseum macht. Überhaupt, nach einem Brexit könnte sich der EU-Kritizismus zu einem hartnäckigen politischen Zeitgeist entwickeln. Er könnte andere Staaten animieren, auch den EU- bzw. sogar den Euro-Exit zu betreiben. Zur Erinnerung: In Frankreich findet 2017 die nächste Präsidentschaftswahl statt. Im schlimmsten Fall wird das politische Europa zu einem Operettenstaat.
Wenn die Briten die EU verlassen, können die Notenbanken zur Not zwar Gegenmaßnahmen ergreifen, zumal die britische Scheidung von der EU über zwei Jahre geht. Langfristig ist der Brexit jedoch ein politisches Horrorszenario für die EU-Finanzmärkte. Die Saat der Eurosklerose geht langsam auf und wird von Populisten kräftig gedüngt.
Die EZB bringt ihre geldpolitische Urgewalt nicht auf die konjunkturelle Straße
Die EZB ist allmächtig in der Bekämpfung von Staatsanleihen-, Banken- und Finanzkrisen. Aber sie ist ziemlich ohnmächtig in puncto Konjunkturstimulierung. Denn in der Eurozone fehlt es vielfach an für Unternehmensinvestitionen attraktiven Standortbedingungen. Die EU ist reformunbeweglich.
Da der wirtschaftliche Erfolg über den kreditzinsdrückenden Ankauf von Staatspapieren ausbleibt, versucht die EZB ihr „konjunkturelles Glück“ jetzt mit dem Aufkauf von Unternehmensanleihen. Doch auch dieses neue geldpolitische Husarenstück wird nicht die Trendwende von Unternehmensinvestitionen in der Eurozone bewirken. Denn den sich bereits jetzt theoretisch äußerst konjunkturfreundlichen, weil rekordniedrigen Renditen 10-jähriger Euro-Unternehmensanleihen (BBB) stehen praktisch die eurozonale Reformwüste und große Verunsicherungen auf der Konsumenten- und Unternehmerseite entgegen.
Stattdessen führen die Aufkäufe von Unternehmensanleihen zu massiven Wettbewerbsverzerrungen. Zukünftig werden marktwirtschaftlich gerechte Risikoaufschläge bei Unternehmenspapieren planwirtschaftlich eingeebnet. Unternehmen könnten gerade wegen des billigen Zentralbankgeldes über die Emission neuer Unternehmenstitel höhere Verbindlichkeiten aufnehmen, um damit hohe Dividenden zu zahlen, Aktien zurückzukaufen und wirtschaftlich sinnlose Übernahmen zu tätigen. Am Ende könnte die europäische Unternehmenslandschaft über höhere Verschuldung noch ungesünder und anfälliger für Krisen sein. Die EZB hätte das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen wollte.
Ein Ausweg aus der Wirtschaftsmalaise wäre es, wenn die Euro-Staaten massiv in Infrastruktur investieren. Hierbei kann man indirekt von der EZB profitieren. Denn sie bietet dank ihrer Zinspolitik und ihren Anleiheaufkaufprogrammen paradiesische Zustände. So verdient Deutschland wegen negativer Renditen mit neuen Schulden Geld.
Gleichzeitig gibt es kein Absatzproblem. Der Staat sollte jedoch nur in Wettbewerbsfähigkeit und Infrastruktur investieren. Konkret geht es um die Sanierung von Brücken und Straßen, die konsequente Energiewende, den Netzausbau, die Digitalisierung der Industriewelt und natürlich um Bildung. Diese staatliche Standortförderung schafft nicht nur einen wirtschaftsfreundlichen Nährboden für unternehmensseitige Folgeinvestitionen. Würden die großen Kapitalsammelstellen beteiligt, kämen diese endlich wieder in den Genuss von renditeattraktiven Anlageobjekten für ihre zinsseitig frustrierten Kunden.
Die Geldflut der EZB würde dann nicht mehr einseitig in überhitzte Anlageblasen fließen, sondern käme der Realwirtschaft zugute. Und für die Aktienmärkte bedeutet das: Wieder fundamentales Fleisch an den abgenagten Knochen der Liquiditätshausse.
Nicht zuletzt sind souveräne Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung in Europa schon aus Gründen der Wachstumsnormalisierung in den Schwellenländern geboten.
China – Wie viele Säcke Reis sind umgefallen?
Eine mittlerweile gereifte chinesische Volkswirtschaft wird zwar eher eine „L“-förmige und nicht „V“- oder „U“-förmige Konjunkturentwicklung zeigen. In puncto Wachstum setzt Peking nun aber sinnvollerweise auf „nachhaltige Qualität vor dynamischer Quantität“. Ineffiziente Unternehmen aus der sozialistischen Blütezeit fallen einem Reinigungsprozess zum Opfer. In Peking hat man erkannt, dass es die Volkswirtschaft hemmt, unprofitable und wachstumsarme Unternehmen um jeden Preis am Leben zu erhalten. Theoretisch mögliche finanzwirtschaftliche Kollateralschäden in Form steigender Kreditausfälle oder Bankrisiken wird eine offensive chinesische Geldpolitik im Keim ersticken. Ohnehin signalisiert die KP in Peking deutlich, dass sie bei der grundsätzlich schwierigen volkswirtschaftlichen Metamorphose von old zu new economy fiskalpolitisch stabilisierend eingreifen wird. China wird weniger stark wachsen als früher, dafür aber nachhaltiger. Die Anlegersorge vor einer Asien-Krise 2.0 wie 1997/98 ist nicht begründet.
Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung – Grundsätzlich keine Angst vor dem zweiten Aktien-Halbjahr, aber…
Grundsätzlich ist der Aktienmarkt geläutert. Es ist unwahrscheinlich, dass die Richter in Karlsruhe der Bundesbank die Beteiligung am EZB-Programm verbieten. Stabilitätspolitisch wäre diese Entscheidung zwar völlig richtig. Aber die Richter werden bei ihrer Entscheidung auch die Systemrisiken einer Wiederkehr der Euro-Staatsschuldenprobleme und ihre Kollateralschäden auf ein ohnehin politisch angeschlagenes Europa haben.
Auch die US-Notenbank wird den Anlegern keine großen Sorgen bereiten. Der aktuelle Zinserhöhungszyklus wird in die Finanz-Geschichte als der schwächste aller Zeiten eingehen. Zudem ist die Angst vor einer harten Konjunkturlandung Chinas gewichen. Und die Gefahr einer nachhaltigen Preis-Apokalypse bei Rohstoffen ist auch gebannt. Mittlerweile hat Rohöl nach seinem Tief im Januar nicht nur seinen Boden gefunden, sondern befindet sich im Aufwärtstrend, in dessen Windschatten sich ebenso andere Rohstoffe stabilisieren. Die über höhere Rohstoffpreise gestärkte Kaufkraft der Schwellenländer kommt so auch der deutschen Exportindustrie zugute. Insgesamt wird sich der Horror einer lang andauernden weltkonjunkturellen Fastenzeit nicht bewahrheiten.
Die Bewertung deutscher Aktien gemäß KGV liegt aktuell bei knapp 12. Das ist im historischen Vergleich nicht unbedingt ein Schnäppchenpreis, aber sicherlich auch nicht übertrieben hoch. Ohnehin darf man nicht nur auf die absolute Bewertung einer Anlageklasse schauen. Die in Deutschland größte alternative Anlageklasse ist der Rentenmarkt. Hier liegt das vergleichbare KGV bei etwa 10.000! Hieran erkennt man sehr schnell, was wirklich teuer ist. Staatsanleihen sind nicht mehr die früher noch übliche harte Anlagekonkurrenz. Der DAX bietet zudem durchschnittlich eine Dividendenrendite von über drei Prozent. Das bietet heutzutage keine ordentliche vernünftige Anleihe mehr. Zinssparen ist Masochismus. Und merkliche Zins-Besserung ist nicht möglich, denn das würde die überschuldete Eurozone nicht mehr aushalten.
Vor diesem Hintergrund sollten Schwächen am Aktienmarkt zu langfristigen Zukäufen genutzt werden. Für Risikoentspannung sorgt nicht zuletzt der Blick auf die Verfassung der Aktienmärkte selbst. Der VDAX Volatilitätsindex, der die mögliche Schwankungsbreite für die nächsten 30 Handelstage misst, liegt trotz vorhandener Risiken und mit einem aktuell zwar angestiegenen Wert von knapp 27 dennoch auf vergleichsweise sehr schwachem Niveau.
Aber, aber, aber: Die Angst vor dem Brexit ist stark ausgeprägt. Sie erklärt neben der aktuellen weltkonjunkturellen Wachstumsschwäche die zuletzt schwache Aktienmarktverfassung. Wenn man ehrlich ist, kann man kein Abstimmungsergebnis am 23. Juni sauber einschätzen. Sollte aber der Kelch des Brexit an uns vorübergehen, muss man wegen des Wegfalls eines politischen Risikos Aktien haben.
Charttechnik DAX – In der Findungsphase
Aus charttechnischer Sicht liegen im DAX auf dem Weg nach oben die nächsten Widerstände bei 9.993 und 10.038 Punkten. Darüber liegen weitere Barrieren bei 10.080, 10.098, 10.128 und schließlich 10.250 Punkten. Im Falle einer Fortsetzung der Korrektur gibt zunächst die Unterstützung bei 9.905 Punkten Halt. Darunter liegt eine weitere Unterstützung bei 9.700 Punkten.
Der Wochenausblick für die KW 24 – Was macht die Fed?
In Japan wird die Bank of Japan ihre Liquiditätsoffensive angesichts der verhaltenen Konjunktursituation mit viel geldpolitischer Verbalerotik unterstreichen, ohne vorerst jedoch weitere Liquiditätsmaßnahmen zu beschließen.
In den USA sprechen schwächere Einzelhandelsumsätze und eine rückläufige Industrieproduktion im Mai gemeinsam mit einer verhaltenen Konjunkturstimmung gemäß Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe der Philadelphia Fed und wiederholt schwache Inflationszahlen für eine ausbleibende Zinserhöhung der Fed. Der Fokus gilt der anschließenden Pressekonferenz, die von Anlegern genau auf Details zum weiteren Vorgehen der Fed abgeklopft wird.
In der Eurozone leiten erneut schwache Inflationsdaten Wasser auf die Mühlen einer großzügigen EZB.
Ein Beitrag von Robert Halver.
Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.
Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de