Zerbröselt Europa?

Europa steckt tief in der Krise, zunächst wirtschaftlich. Das seit dem Vertrag von Lissabon 2007 erzählte Märchen, wonach die EU die wachstumsstärkste Region der Welt werde, hat bislang kein Happy End gefunden. Die Eurozone stagniert vielmehr. „Hochkonjunktur“ gibt es nur bei Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Geradezu pathologisch ist die Einstellung vieler europäischer Politiker – auch in Deutschland – das Wettbewerbsprinzip ausgerechnet im Zeitalter der Globalisierung zu meiden wie Katzen das Wasser. Dagegen sind die Schwellenländer dabei, sich mit wirtschaftlichen Rosskuren am eigenen Schopf aus der Wachstumskrise zu ziehen. Auch der nach der US-Immobilienkrise hämische Blick von Brüssel Richtung Amerika ist als Bumerang längst zurückgekommen. Denn während in Villa-EU die Immobilien- und Staatschuldenkrise noch weggeputzt wird, wird in Villa-USA schon Aufschwung gefeiert.

Warum sollten sich eigentlich Menschen in Griechenland, Portugal, Spanien oder auch Frankreich für die europäische Idee erwärmen, wenn sie sie mit der Kälte von Arbeitslosigkeit, Steuererhöhungen und Rentenkürzungen verbinden?

Welchen Sinn macht eine Interessengemeinschaft wie die EU für ihre Bürger, die auf die epochalen Anforderungen Globalisierung und Digitalisierung nur mit lässiger Reformfeindlichkeit reagiert? Überall in Europa kennt man von Müttern und Vätern die Aussage „Du sollst es einmal besser haben als ich“. Aber die EU-Politik scheint diesem verständlichen Ansinnen immer mehr einen Riegel vorzuschieben. Würde man privat einem Verein angehören wollen, der viel Mitgliedsbeitrag kostet, aber für die eigenen Interessen wenig tut?

Griechenland hat in puncto Eurozone fertig

Der Politik geht es nur darum, die Vereine EU und Eurozone irgendwie zusammenzuhalten. Dabei schreckt sie auch vor Ausschaltung des gesunden Menschenverstands nicht zurück. Und sie vernachlässigt schluderhaft die Stabilitätskriterien von Maastricht, deren strikte Einhaltung damals zwar knallharte Bedingung für das Eingehen der Währungsunion war, aber deren Rechtsbeugung heute alternativlos ist. Das Gleiche gilt für die EZB, die die Politik der Deutschen Bundesbank fortsetzen sollte, heute aber längst in der Rolle des fröhlichen Mundschenks für Schulden fröhnende Finanzminister ist. Zugleich bezahlt sie beim Schuldengelage jeden Deckel und macht damit ihrem Spitznamen alle Ehre: Einer Zahlt Bestimmt! Soweit die „schöne“ bunte politische Verpackung von EU und Eurozone.

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Einer Zahlt Bestimmt! Soweit die „schöne“ bunte politische Verpackung von EU und Eurozone.

Aber auf den Inhalt kommt es an! Was ist es für ein finanz- und wirtschaftspolitischer Nonsens, Griechenland gegen jede Vernunft im gemeinsamen Währungsraum zu lassen? Dieses strukturschwache Land wird im eng geschnürten Euro-Korsett so wenig konjunkturellen Erfolg haben wie Deutschland beim Eurovision Song Contest. Dennoch ist es oberste Priorität der Politik, die Griechen im Euroraum zu belassen. Man will nach einem Grexit – der Griechenland aufgrund von Währungsabwertung gegenüber Portugal, Italien und Spanien bei Südfrüchten und Tourismus konkurrenzlos machen würde – einen Dominoeffekt verhindern. Die Lust auf Austritt würde nach einem Grexit – so die politische Befürchtung – immer größer und die Eurozone politisch immer schwächer.

Daher dominiert die Polit-Räson der unbedingten Zwangsgemeinschaft alles, selbst wenn die Griechenland-Rettung völlig gescheitert ist. Wenn ein Politiker selbstgerecht etwas anderes behauptet, sollte er seinen Nachnamen im Pass überprüfen. Er könnte „Pinocchio“ lauten.

Das Zusammenbleiben der EU entspricht einem alten Ehepaar, wo Liebe und Idealismus zwar verblüht sind, man aber aus Angst vor dem Verlust des Steuerprivilegs und der gemeinsamen Immobilie dennoch zusammenbleibt. Der Politik mag das eine gewisse Zeit Entspannung verschaffen. Doch dieses süße Gift der Verdrängung versagt seine langfristige fatale Wirkung leider nicht.

Die EU ist Krisen gegenüber ohnmächtig

Denn die ehelichen Kinder begegnen der europäischen Idee mit immer mehr Misstrauen und Skepsis. Europa wird immer weniger zugetraut, wirtschaftliche und auch geopolitische Krisen gemeinschaftlich einzudämmen. So hat man für den Konflikt mit Russland keine Lösung parat, die auch darin bestehen sollte, sich von der Dominanz der Weltmacht Nr. 1 im eigenen geographischen und wirtschaftlichen Interesse zu emanzipieren.

U.a. in der Flüchtlingskrise macht die EU alles andere als eine Bella Figura. Jeder macht entweder, was er national will oder verweist heuchlerisch auf eine europäische Lösung, die aber nicht kommt. Wenn Europa keine gemeinsame vernünftige Migrationspolitik selbst betreibt und seine Außengrenzen nicht selbst schützt, versagt es in einer existenziellen staatlichen Kerndisziplin. In der großen Flüchtlings-Not kann man nicht auf einen „Dienstleister“ setzen, der die politischen Preise als Gegenleistung so hoch treibt, dass Europa die Fahne der Menschenrechte nur noch auf Halbmast setzt. Das humanistische Fundament des Gemeinschaftswerks EU wird ansonsten einem politisch stinkenden Kuhhandel geopfert.

Vom französischen Blutsbruder, mit dem Deutschland in früheren Krisensituationen regelmäßig gut zusammenarbeiten konnte, ist derzeit weit und breit nichts zu sehen. Ähnlich wie bei Karl May scheint Winnetou in die ewigen Jagdgründe eingegangen zu sein. Sieht so etwa die europäische Lösung aus?

Und jetzt mal ehrlich: Welches weltpolitische Krisenlösungspotenzial will man einem Europa insgesamt noch beimessen, das bereits daran scheitert, seinen eigenen Vorgarten von national-egomanischem Wildwuchs zu befreien? So ein Partner ist keine geostrategische Unterstützung, sondern ein kakophonischer Kindergarten.

Eurosklerose – Die Krankheit wuchert

Ist es da verwunderlich, dass bei so viel Lösungsverweigerung die Volksparteien nicht nur in Österreich, sondern in allen Euro-Länder dramatisch an Zustimmung verlieren? Wer im Empfinden von vielen Wählern keine klaren Lösungen anstrebt bzw. reale Probleme wenig, wenn überhaupt thematisiert, sich aber stattdessen wie ein Turner von Reckstange zu Reckstange – d.h. von Wahltermin zu Wahltermin – schwingt, darf sich nicht wundern, wenn selbst aus großen Koalitionen kleine werden.

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Beim Brexit ginge ein wichtiger EU-Lotse von Bord

In dieser Gemengelage gebrochener Stabilitätskriterien, dilettantischer Lösungen und Staatsversagen kommt dem Votum der Briten am 23. Juni über einen Verbleib in der EU hohe Brisanz zu. Mit diesem Votum fällen die großen Briten ein Qualitätsurteil über die EU. Sagen sie mehrheitlich „Leave“ ist das so, als würde ein Restaurant seinen Michelin-Stern verlieren.

Beim Brexit ginge ein wichtiger EU-Lotse von Bord

Dann zu glauben, der Brexit würde ein singuläres Ereignis bleiben, halte ich für sehr optimistisch. Der EU-Kritizismus würde zu einem neuen politischen Zeitgeist, der Wasser auf die Mühlen entsprechender Parteien in den EU- und Euro-Staaten leitete. Dieser EU-Spaltpilz könnte selbst durch Glyphosat nicht bekämpft werden.

Mit dem Austritt Großbritanniens würde nicht zuletzt der Vorteil einer großen Gemeinschaft aufgegeben. Großbritannien ist nicht Malta oder Zypern. Das Land ist eine bedeutende Militärmacht, hat mit einem ständigen Platz im Sicherheitsrat großen Einfluss bei der UN, ist ein Verteidiger der Wettbewerbsfähigkeit und Marktwirtschaft und hält in puncto Menschenrechten im Gegensatz zu vielen Verständnispolitikern zumindest nicht immer die „Schnauze“. Geopolitisch ist es zudem aufgrund seines früheren Status als Kolonialmacht vielfach krisenerprobt. Dagegen laufen auf dem Kontinent zu viele „Juniorpartner“ herum, die Angst vor Verantwortung haben. Übrigens, wenn das große Britannien aus der EU ausscheidet, ist das wohl kaum ein überzeugendes Argument, dem Verein EU beizutreten.

Sich der Kritiklosigkeit an der EU widersetzen

Es ist keine Majestätsbeleidigung an Europa, wenn die EU-Politik kritisiert wird. Im Gegenteil, nur durch Kritik können sich Dinge positiv entwickeln. Ich persönlich finde die europäische Gemeinschaft schon aufgrund meiner Herkunft aus dem Dreiländereck Deutschland, Holland und Belgien großartig. Ohnehin ist sie notwendig, um nicht von großen geostrategischen Playern wirtschaftlich, z.B. durch TTIP, überrannt zu werden.

Die EU muss sich endlich führungsstark zu dramatisch überfälligen Reformen in Wirtschaft und Außenauftritt durchringen und damit endlich die Herausforderungen der politischen wie wirtschaftlichen Globalisierung offensiv annehmen. Mit der Krümmung der Banane oder der Frage, ob regionale Wurst- oder Käsespezialitäten schützenswert sind, sollen sich nationale Politiker beschäftigen. Die bessere Idee wird sich marktwirtschaftlich schon durchsetzen.

Das ist eine Herkules-Aufgabe, vielleicht sogar eine Kernsanierung der EU. Wir haben aber keine Wahl: Ohne diese Maßnahmen werden die EU und später die Eurozone allmählich zerbröseln wie Sandburgen am griechischen Strand. Zum Schluss wäre Europa nicht mehr der größte Wirtschaftsraum der Welt und ein geopolitisch respektierter Partner, sondern nur noch ein Industriemuseum und ein Operettenstaat. Und seine Finanzmärkte würden dann auf das Niveau von Entwicklungsländern zurückfallen.

Ich will nicht, dass über Europa, sondern mit Europa gesprochen wird. Wenn Ihr Politiker diese Hausaufgaben nicht schafft, dann tretet bitte zurück. Wer nicht mit der Zeit geht, sollte mit der Zeit gehen.

Politisch Hintern in der Hose zu haben, ist kein Luxus, sondern eine Selbstverständlichkeit!

RobertHalverEin Beitrag von Robert Halver.

Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.

Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de