Das Cliché-behaftete Krisentertial Mai, Juni, Juli und August sollte nicht zum „Sell“, sondern als „Stay“ genutzt werden
In Deutschland lässt eine eindeutige Wirtschaftsverbesserung noch auf sich warten. Es fehlt an „harten“ Konjunkturdaten und ausreichend freundlichen Unternehmensgewinnen. Und dennoch, der berühmt-berüchtigte Effekt „Sell in May and go away“ zeigt abseits erhöhter Kursschwankungen keine besonders hässliche Fratze. Denn zunächst haben die Aktienmärkte in den ersten vier Monaten des Jahres keinen Gewinnpuffer in Form von Kursgewinnen erwirtschaftet, die Anleger nun realisieren könnten. Daneben bleibt die internationale Geldpolitik ein massives Auffangnetz. Nicht zuletzt bietet die geschönte Darstellung der Schuldentragfähigkeit Griechenlands der Politik ein grandioses Alibi für die Auszahlung des nächsten Hilfskredits. Anlegern bleibt die erneute Auseinandersetzung mit schmerzhaften Stabilitäts- und Grexitdebatten wie 2015 erspart.
Deutschlands Wirtschaft zeigt mitunter durchaus Frühlingsgefühle. Die Industrie hat im März mit einem Plus von 1,9 Prozent deutlich mehr Aufträge erhalten als im Vormonat und auch die Exporte legten kräftig zu. Das ist jedoch nicht der Beginn einer nachhaltigen Dynamisierung. Denn das solide Konjunkturwachstum im I. Quartal 2016 von 1,6 Prozent zum Vorjahr beruht maßgeblich auf Sondereffekten angesichts eines milden Winters.
Immerhin, die Gewinnentwicklung in der deutschen Industrie ist seit Jahresbeginn auf Erholungskurs. Eine branchenübergreifende Erholung deutscher Unternehmensgewinne bleibt jedoch eine fundamentale Bringschuld.
Als Bremsklotz für exportsensitive deutsche Unternehmen erweist sich die verhaltene Weltkonjunktur, die sich im II. Quartal 2016 laut ifo Institut lediglich stabilisieren konnte. Setzt man die Einschätzung der globalen Geschäftslage und -erwartungen zueinander in Beziehung, befindet sich die Weltkonjunktur nach wie vor in rezessivem Terrain.
Ein Indikator für die vergleichsweise verhaltene Weltwirtschaft ist auch die Entwicklung des Kupferpreises. Als weltkonjunkturzyklischstes aller Industriemetalle zeigt die langjährige Preisschwäche bei Kupfer, dass die Sturm-und Drangzeit der Schwellenländer der Vergangenheit angehört. Im Übrigen ist der Abbau von Überkapazitäten noch nicht abgeschlossen. Mittlerweile hat auch der sich seit Jahresbeginn erholende Kupferpreis wieder an Stärke verloren.
Trotzdem zeigt sich der deutsche Aktienmarkt von diesem Fundamentalszenario vergleichsweise wenig beeindruckt. Die früher noch eindeutige historische Korrelation, wonach schwächeren ifo Geschäftserwartungen in Deutschland im Jahresvergleich ebenso Kursverluste beim DAX folgten, hat sich seit Mitte 2012 ent-korreliert. Das geldpolitische Rettungsversprechen der EZB von Juli 2012 mit Start der tatsächlichen Liquiditätsoffensive ab Januar 2015 führte zu einer deutlichen Entkoppelung der Aktienmärkte von der fundamentalen Konjunkturentwicklung.
So werden fundamental gerechtfertigte Kurseinbrüche an den Aktienmärkten durch den liquiditätspolitisch verursachten Anlagenotstand verhindert, zumal die größte Alternativanlageklasse „Zinsvermögen“ durch sinkende Notenbankzinsen der EZB und massive Rendite-drückende Anleiheaufkäufe immer unattraktiver geworden ist. Der Vergleich der Wertentwicklung des Deutschen Aktienindex mit der Umlaufrendite deutscher Staatsanleihen verdeutlicht dies: Während Bundesanleihen noch bis 2008 hohe Renditen von mindestens vier Prozent boten – die als lohnende Anlagealternative einen nachhaltigen Anstieg des DAX über die Marke von 8.000 Punkten verhinderten – erhalten Anleger heutzutage völlig unbefriedigende Durchschnittsrenditen von ca. 0,05 Prozent. De facto hat die Geldpolitik ein Sicherheitsnetz für Aktien gespannt.
Sag mir wo die Gründe für die Zinserhöhung sind, wo sind sie geblieben?
Auch weltweit entkommen die Notenbanken dieser geldpolitischen Einbahnstraße immer weniger. Die US-Notenbank muss mittlerweile feststellen, dass bereits ihre minimale Zinserhöhung im Dezember 2015 um 0,25 Prozentpunkte angesichts eines im Trend nachgebenden Stellenaufbaus im US-Privatsektor unberechtigt gewesen ist. Wurden im Oktober 2015 noch 304 Tausend neue Arbeitsplätze geschaffen, hat sich der Beschäftigungsaufbau auf zuletzt 171 Tausend nahezu halbiert.
Ohnehin hat am US-Arbeitsmarkt ein deutlicher qualitativer Strukturwandel stattgefunden. Der massive Abbau hochwertiger Arbeitsplätze in der US-Industrie im Nachgang der US-Immobilienkrise 2007 von rund 1,5 Mio. wurde durch einen annähernd ebenso hohen Jobaufbau im Niedriglohnsegment der Gastronomie ausgeglichen. Mit der Qualitäts- ist auch eine Kaufkraftverschiebung nach unten verbunden. Wer weniger verdient, gibt auch weniger aus.
Insgesamt wird damit quantitativ, aber vor allem qualitativ die Dynamik des Konsums als hauptsächlicher Motor der US-Wirtschaft geschwächt. Das von der Fed immer wieder vorgebrachte Argument steigender Löhne als „datenabhängiger“ Bestimmungsfaktor für ihre zukünftige Geldpolitik verliert damit deutlich an zinserhöhungspolitischer Bedeutung.
Nicht zuletzt verliert damit ebenso das Thema lohninduzierte Inflation an Argumentationskraft für eine Fortsetzung der Zinswende. Tatsächlich zeigt die US-Inflationsrate seit Januar eine nachgebende Tendenz.
An den Finanzmärkten hat sich längst die Einschätzung breit gemacht, dass die Zinswende erst sehr spät fortgesetzt bzw. sogar bereits beendet ist. Laut Finanzdatenanbieter Bloomberg liegt die aus den Derivatemärkten – den Fed Funds Futures – abgeleitete Wahrscheinlichkeit für eine Zinserhöhung der Fed auf einer noch in diesem Jahr stattfindenden Notenbanksitzung erst für Dezember knapp über 50 Prozent. Und selbst für Januar 2017 fällt die Wahrscheinlichkeitseinschätzung der Finanzprofis für eine Zinserhöhung mit 56,9 Prozent eher knapp aus.
Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung – Warum sollten nur die Aktien-Bullen in Sommerpause gehen?
Insgesamt ist die Lage an den Aktienmärkten zwar nicht krisenbefreit. Großes Ungemach droht jedoch auch deswegen nicht, da der deutsche Aktienmarkt überverkauft ist, was als Kontraindikator für eine Stabilisierung der Aktien spricht. Zudem kann die Gefahr einer neuerlichen Stabilitätskrise in Griechenland oder gar eines Grexit vernachlässigt werden. Aufgrund der ansonsten auftretenden Kollateralschäden für die EU genießt die große Politik Priorität vor jeder Stabilitätspolitik.
Selbst angesichts der neuen Sachlichkeit in der chinesischen Volkswirtschaft besteht abseits zwischenzeitlicher Kursvolatilitäten kein nachhaltiger Grund zur Anlegersorge. Eine mittlerweile gereifte chinesische Volkswirtschaft wird sicherlich eher eine „L“-förmige und nicht „V“- oder „U“-förmige Konjunkturentwicklung zeigen. Doch signalisiert die KP in Peking deutlich, dass sie beim grundsätzlich schwierigen Übergang von einer Export und Anlagen getriebenen hin zu einer nachhaltigen Konsum- und Dienstleistungswirtschaft fiskalpolitisch massiv eingreifen wird. In puncto Wachstum gilt mittlerweile das Prinzip „Qualität vor Quantität“. Ineffiziente Unternehmen aus der sozialistischen Blütezeit fallen einem Reinigungsprozess zum Opfer. In Peking hat man erkannt, dass es die Volkswirtschaft hemmt, unprofitable und wachstumsarme Unternehmen um jeden Preis am Leben zu erhalten.
Naturgemäß führt dies zu steigenden Kreditausfällen. Theoretisch möglichen finanzwirtschaftlichen Risiken wird eine ultralockere Geldpolitik der People’s Bank of China im Keim ersticken.
Anleger sollten sich nicht einschüchtern lassen. Wenn der Kelch des Brexit an uns vorübergegangen ist, für alle Anleger erkennbar wird, dass sich selbst die US-Notenbank von der Zinswende verabschiedet und so die Weltwirtschaft stabilisiert, Konjunkturschocks in Asien ausbleiben und die Rohstoffpreise ihr Niveau einigermaßen verteidigen können, werden die Gewinnrevisionen nach unten zu einem Halt kommen und allmählich nach oben drehen. Es verspricht ein schöner Aktien-Herbst zu werden.
Das Cliché-behaftete Krisentertial Mai, Juni, Juli und August sollte nicht zum „Sell“, sondern als „Stay“ genutzt werden.
Charttechnik DAX und Euro Stoxx 50 – Entspannung, aber keine Entwarnung
Charttechnisch wartet im DAX der erste Widerstand bei 9.920 und ein etwas stärkerer an der unteren Begrenzung des Aufwärtstrendkanals bei aktuell 10.064 Punkten. Darüber bestehen Barrieren bei 10.123 und 10.188. Die mittelfristig bedeutendste Hürde wartet bei 10.485 Punkten. Wird dagegen die Marke bei 9.753 deutlich durchbrochen, muss mit weiteren Verlusten bis zur Unterstützung bei 9.498 Punkten gerechnet werden. Bei 9.332 und zwischen 9.079 und 8.967 Punkten bestehen weitere Auffanglinien.
Werden im Euro Stoxx 50 auf dem Weg nach oben die Widerstandszonen zwischen 2.930 und 2.950 sowie zwischen 2.990 und 3.000 Punkten durchbrochen, treten weitere Barrieren bei 3.062 und 3.106 in den Vordergrund. Weitere Hürden liegen darüber zwischen 3.137 und 3.156 und bei 3.169 Punkten. Auf der Unterseite verlaufen Unterstützungen bei 2.860, 2.800 und 2.756 Punkten.
Der Wochenausblick für die KW 20 – Was steht im Fed-Sitzungsprotokoll?
Laut BIP-Zahlen für das I. Quartal 2016 dürfte Japan nur knapp einer Rezession entgangen sein. Das ist für die Bank of Japan Grund genug, ihre Liquiditätspolitik zur Finanzierung von Konjunkturmaßnahmen auszuweiten.
In den USA weisen leichte Verbesserungen der Industrieproduktion, des Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe der Philadelphia Fed sowie der anhaltende Seitwärtstrend bei Baubeginnen und -genehmigungen nur auf eine verhaltene Konjunkturstabilisierung hin. Schwach zeigt sich auch die Inflationsentwicklung im April. Anleger werden daher das Protokoll der vergangen Fed-Sitzung auf Hinweise bezüglich des Endes der Zinswende untersuchen.
Auch in der Eurozone signalisieren die Preisdaten für April anhaltenden Deflationsdruck und geben der EZB ein Alibi für die Fortsetzung ihrer ultralockeren Geldpolitik.
Ein Beitrag von Robert Halver.
Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128.
Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de