Dicke Luft am deutschen Aktienmarkt
Aus den griechischen Neuwahlen geht Alexis Tsipras als Sieger hervor. Im Grunde ist es ein Non-Event. Denn es ist gleichgültig, ob die neue alte Regierung Reformschritte umsetzt oder nicht. Griechenland wird so oder so finanziell geholfen. Die bestehenden Risse in der Fassade der sogenannten Europäischen Wertegemeinschaft sollen nicht noch größer werden: Bereits bestehende Zersetzungserscheinungen wegen des Streits über die Flüchtlingskrise, das Votum der Katalanen über die Separation von Spanien am Sonntag, das Votum der Briten über einen Brexit und französische Präsidentschaftswahlen 2017, bei denen sich die Europa-unfreundliche Marine Le Pen zumindest Chancen auf eine Präsidentschaft macht, sollen auf keinen Fall durch eine weitere Griechenland-Krise wie im 1. Halbjahr 2015 gefördert werden.
So wird Ministerpräsident Tsipras das griechische Wählervotum dazu nutzen, die ihm im Rahmen des dritten Hilfspakets auferlegten Spar- und Reformauflagen aufzuweichen. Zunächst wird der geforderte Primärüberschuss – d.h. Haushaltsüberschuss ohne Zinszahlungen – von 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung unter Hinweis auf den selbst verschuldeten Einbruch der griechischen Wirtschaft nicht mehr angestrebt.
Die Rentenreform wird man zwar parlamentarisch beschließen, doch ihre Umsetzung jahrelang nach bekannter Manier verzögern. Und die Privatisierung von Staatsunternehmen in Höhe von 50 Mrd. Euro ist ohnehin realitätsfern. Kaum ein Investor wird mit Blick auf die weiter wettbewerbsunfähige griechische Volkswirtschaft investieren wollen. Die Investitionswelt ist außerhalb Griechenlands groß und bunt.
Auch bleibt Tsipras Wunsch nach einem Schuldenschnitt sehr lebendig. Der Not gehorchend wird sich früher oder später auch die deutsche Regierung einem Schuldenschnitt nicht verweigern. Dieser wird allerdings nicht klassisch betrieben, denn das ist der deutschen Wahlbevölkerung nicht zuzumuten. Die Schuldentilgung wird stattdessen gestreckt. Tatsächlich machen schon Tilgungsaussetzungen über einen Zeitraum von 60 Jahren die Runde.
Die 2010 als einmalig beschriebene Rettungsaktion Griechenlands ist bereits in die dritte Runde gegangen. Weitere Runden wird es geben müssen, um etwas zusammenhalten zu müssen, was aus Stabilitätssicht längst nicht mehr zusammenzuhalten ist.
Das erzwungene Ende der Europäischen Stabilitätsunion
Die de facto-Entbindung Griechenlands von Stabilität streut. Die finanzielle Bewältigung der Flüchtlingskrise wird als rechtlich relevante Notsituation für den Bruch haushaltspolitischer Ziele in der Eurozone deklariert werden. Für die von Deutschland geforderte Solidarität der EU-Staaten in der Flüchtlingskrise wird als Gegenleistung die massive, im Extremfall sogar komplette Aufweichung von Haushaltsdisziplin in den betroffenen Ländern verlangt und auch gewährt werden.
Aktuelle Marktlage: Ist die weiße Weste von „Made in Germany“ angerußt?
Das Verwirrspiel der Fed um die Zinswende geht in die nächste Runde. Nachdem noch auf der Fed-Sitzung in der letzten Woche ehemalige Falken der Fed zu weißen Tauben wurden, hat US-Notenbankpräsidentin Yellen jetzt wieder ein Signal für eine Zinserhöhung zum Jahresende gegeben. Sie sei angemessen unter der Voraussetzung, dass sich der US-Arbeitsmarkt weiter verbessere und sich die Inflation weiter auf eine Rate von zwei Prozent zubewege. Nachdem sie noch vor einer Woche die verhaltene Weltwirtschaft als deutliches Argument gegen die Zinswende angeführt hatte, fand dieser Aspekt jetzt keine Bedeutung. Das Verwirrspiel geht weiter. Es kann nicht sein, dass zinspolitische Verlautbarungen der Fed zu Momentaufnahmen verkommen, die heute das eine und morgen das andere Element beinhalten. Frau Yellen muss das spekulative Element aus der Zinsdiskussion herausnehmen. Ansonsten wird die bedeutendste Beruhigungsanstalt der Finanzwelt zum größten Verunsicherungselement.
Neben dieser Verunsicherung leidet der deutsche Aktienmarkt unter hausgemachtem Ungemach. Gleich vier Branchen bereiten den Anlegern sorgen. Die Banken leiden unter der politischen Regulierung, Versicherungen werden durch die Zinsschwäche in puncto Garantieverzinsung belastet und die Versorger kämpfen immer noch mit dem Schnellschuss der Bundesregierung zum Atomausstieg. Deren endgültiges Schicksal ist noch nicht abzusehen.
Der schwarze Schwan in Deutschlands Vorzeigebranche
Und jetzt ist noch ein fatales Element der Ernüchterung hinzugekommen. Ausgerechnet in unserem Kronjuwel, dem Automobilsektor: „Dieselgate“ bei VW. Zunächst ist zu hoffen, dass Amerika diese Abgasaffäre nicht zum Anlass nimmt, ausländische Konkurrenz im Sinne einer Unverhältnismäßigkeit über Gebühr zu bestrafen. Die US-Behörden müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie fair agieren. Und von Amerika muss die klare Botschaft kommen: Yes, we can!
Die gesamte deutsche Automobilindustrie gerät in Sippenhaft, nachdem auch bei BMW gemäß eines Zeitungsartikels fehlerhafte Abgaswerte festgestellt wurden. Zurzeit sind keine seriösen Schätzungen über die Höhe der Strafzahlungen, Schadensersatzklagen und Rückrufaktionen bzw. auch hinsichtlich von Rückgaben von Fahrzeugen möglich. Die Autoanalysten befinden sich im Blindflug. Auch Orientierungen an früheren Strafzahlungen bei einem US-Autohersteller sind erschwert, da es sich hierbei um Produktionsmängel handelte und bei VW um Vorsatz, nicht um Fahrlässigkeit. Damit fällt es auch schwer, den fundamentalen Schaden auf den DAX abzuschätzen. Immerhin entfallen allein auf die drei großen deutschen Autobauer etwa knapp ein Drittel des gesamten DAX-Gewinns und ein Viertel der DAX-Marktkapitalisierung. Gibt es etwa auch Kollateralschäden in der Zulieferbranche. Kommt es zu einem anderen Autokaufverhalten? Unsicherheitsbedingt und bewertungsseitig ist eine Herabstufung des DAX-Indexziels bis Jahresende auf etwa 10.600 Punkte angebracht.
Ist das erotischste Industrielabel der Welt, nämlich „Made in Germany“ beschmutzt? Nein, es ist nicht von einem nachhaltigen Schmutzbefall auszugehen. Wir Deutschen neigen dazu, von himmelhoch jauchzend sehr schnell zu Tode betrübt zu sein. Der Abgasskandal wird wohl schwerpunktmäßig auf VW beschränkt bleiben. Wenn VW selbst jetzt deutsche Gründlichkeit in der Aufklärung zeigt – der Rücktritt von Martin Winterkorn und die Benennung von Porsche-Chef Matthias Müller – sind die ersten wichtigen Schritte getan. Auch Amerika belohnt Reumütigkeit. Wenn man es schafft, dass die Gerichtsprozesse im Hintergrund zwar ablaufen, das operative Geschäft bei VW aber wieder mehr in den Vordergrund rückt, ist der Weg in die Normalisierung auch am Aktienmarkt geschafft. Der Live-Ticker über die Schadensersatzdiskussion wird jedoch für hohe Volatilität sorgen. Für Häme anderer Autobauer in anderen Ländern ist übrigens kein Platz. Auch dort wird man nicht nur auf Heilige treffen.
Makroökonomisch setzt sich die volkswirtschaftliche Schwäche der Schwellenländer fort. Der von der Caixin-Mediengruppe veröffentlichte Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe Chinas bleibt abwärts gerichtet und befindet sich zum Leidwesen auch der Weltkonjunktur mit einem Wert von 47 nicht nur deutlich unter der Expansion anzeigenden Schwelle von 50, sondern auch auf dem niedrigsten Stand seit März 2009. Dem gegenüber zeigt sich der ifo Geschäftsklimaindex für die deutsche Wirtschaft auf den ersten Blick zwar erstaunlich stabil und konnte auf 108,5 nach 108,4 zulegen.
Auf den zweiten Blick jedoch ist die Schwäche in China und anderen Schwellenländern bereits in der deutschen Industrie angekommen. Denn die Stärke des ifo Geschäftsklima-Gesamtindex wird vor allem von den Subindices Bau und Konsum genährt. Dagegen setzt der ifo Subindex für das Geschäftsklima im Kernbereich der deutschen Wirtschaft, dem Verarbeitenden Gewerbe, seinen Abwärtstrend fort.
Wenn aber schon Deutschland als stärkste Wirtschaftsnation der Eurozone Schwächen zeigt, liefert dies der EZB willkommene Munition, ihr staatsanleihedrückendes Liquiditätsprogramm zum Zwecke der konjunkturellen und exportseitigen Unterstützung spätestens Anfang 2016 auszuweiten. Leider verkennt die EZB das auch die größte Geldflut die Konjunktur nicht nachhaltig erreicht. Der Zusammenhang aus Liquiditätsausstattung und ifo Geschäftserwartungen ist nicht sehr eng.
Immerhin wirkt die Liquiditätsschwemme der EZB als konterkarierendes Argument gegen massive Kursverluste.
Anlegerstimmung: Volatilität macht Teilschutzprodukte und Ansparpläne interessant
Die Risikoaversion der Anleger ist auf den höchsten Stand seit Juli 2012 gestiegen. Die demnach theoretische Schwankungsbreite im DAX liegt gemäß VDAX-New Volatilitätsindex für die nächsten 30 Handelstage zwischen 10.488 und 8.864 Punkten. Die steigenden Schwankungsbreiten machen finanztechnisch Discount- und Bonusprodukte oder Aktienanleihen attraktiver. Mit ihnen lassen sich Teilabsicherungen gegen zwischenzeitliche Börsenverluste günstig darstellen.
Aktienmarkt gemäß VDAX Volatilitätsindex, invers dargestellt
Vor allem jedoch macht das verstärkte Auf und Ab der Aktienmärkte Aktienansparpläne interessant. Und das am besten auf Aktienindices, um das Einzelwertrisiko zu mildern und am besten regelmäßig, um das Risiko größerer einmaliger Anlagen zu umgehen. Bei monatlichem Ansparen erhält man als Anleger bei steigenden Kursen zwar weniger Aktienanteile, dafür nimmt man jedoch die Kurssteigerungen mit. Entscheidend ist aber, was passiert, wenn die Kurse zwischenzeitlich fallen. Bei gleichbleibendem Ansparplan erhält man mehr Aktienanteile. Bei wieder steigenden Kursen macht sich das kaufmännische Motto „Im Einkauf liegt der Gewinn“ positiv bemerkbar.
Charttechnik DAX und Euro Stoxx 50: Angeschlagen
Aus charttechnischer Sicht präsentiert sich der DAX weiterhin angeschlagen. Auf der Unterseite liegt eine erste Haltelinie bei 9.560 Punkten, bevor der Index am bisherigen Jahrestief bei 9.338 Punkten auf eine solide Unterstützung trifft. Auf dem Weg nach oben verläuft ein erster Widerstand bei 9.800 Punkten. Gelingt ein überzeugender Spurt über den Widerstandsbereich zwischen 9.900 und 10.000 Punkten, stößt der DAX im Bereich zwischen 10.383 und 10.437 auf die nächste Hürde. Darüber dürften die nächsten Barrieren bei 10.652 und bei rund 10.800 Punkten in Angriff genommen werden.
Auch der Euro Stoxx 50 zeigt sich geschwächt. Die erste relativ starke Auffanglinie verläuft am bisherigen Jahrestief bei 2.970 Punkten. Schließlich trifft der Index auf weitere Unterstützungen bei 2.850 und 2.790 Punkten. Auf der Oberseite gilt es zunächst, den schwachen Widerstand bei 3.160 Punkten zurückzuerobern. Darüber muss eine weitere Widerstandszone zwischen 3.290 und 3.325 Punkten überwunden werden. Gelingt dies, ist der Weg bis zu den nächsten Hürden bei 3.417 und darüber bei 3.473 Punkten frei.
Und was passiert in KW 40?
In China dürfte auch der staatliche Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe auf eine anhaltende konjunkturelle Schwäche hindeuten. In den USA dürfte der ISM Index für das Verarbeitende Gewerbe unverändert ausfallen.
Die Eurozone kann sich auch im September gemäß Erstschätzung der Inflationsrate kaum von der Deflationsgrenze lösen. Der von der EU-Kommission veröffentlichte Economic Sentiment Indikator deutet zudem auf zunehmenden konjunkturellen Gegenwind hin.
Ein Beitrag von Robert Halver.
Robert Halver ist Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG. Das Haus mit Sitz in Unterschleißheim bei München ist eine der führenden Investmentbanken in Deutschland und Marktführer im Handel von Finanzinstrumenten. Halver beschäftigt sich seit 1990 mit Wertpapieren und Anlagestrategien.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128
Bildquelle: Baader Bank / meineprivatenfinanzen.de